Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Liebesgeschichte«,
fügte ich hinzu.
Er musterte mich von oben bis unten.
Dann nannte er zwei Straßen und sagte, ich müsse dort suchen, wo sie sich
kreuzten.
»Und in welchem Teil der Stadt soll
ich meine Suche beginnen?«, fragte ich.
Er sah mich an, als wäre ich schwachsinnig.
»Geh zum Stephansdom«, sagte er und zeigte zu dem schwarzen Turm, der in den
Himmel ragte, »und bedenke, ob du nicht in seinen Mauern besser aufgehoben
bist. Solltest du trotzdem noch das Palais Riecher finden wollen, wirst du es
nicht weit haben.«
Ich hätte es wissen müssen! Ich war einen Tag durch die Stadt gewandert, und sie
war genau dort, wo ich begonnen hatte. Meine Mutter und die Glocke hatten mich
zu ihr gerufen! Wenn nur meine Augen so gut gewesen wären wie meine Ohren,
hätte ich sie vielleicht vom Turm aus erspäht. Nach einer halben Stunde hatte
ich die Kreuzung gefunden, die der Page genannt hatte, und dann sah ich auf und
erblickte das Palais Riecher – so prächtig und vollkommen wie Staudachs Kirche.
III.
Inzwischen war es dunkel
geworden. Das Palais Riecher war eingeklemmt zwischen zwei größeren, aber
weniger makellosen Fassaden, sodass ich nur das Gesicht des prächtigen Gebäudes
zu sehen bekam: Zwei beleuchtete Fenster im zweiten Stock waren die funkelnden
Augen und sein geschlossenes schwarzes Tor der furchteinflößende Mund.
In das große Tor, gebaut für die
größten Kutschen des Kaiserreichs, war für arme Teufel wie mich eine winzige
Tür eingelassen. Ich näherte mich dem Tor und bedachte gar nicht, was ich tat.
Ich klopfte.
Niemand öffnete. Dann bemerkte ich
eine Schnur, die neben dem Tor herunterhing und einem Glockenseil ähnelte. Ich
zog daran. Irgendwo tief im Inneren des Gebäudes hörte ich ein Läuten. Da mich
alles faszinierte, was läutete, zog ich noch einmal und versuchte, die Größe,
die Form und das Metall der Glocke abzuschätzen; dann zog ich ein weiteres Mal,
wobei ich versuchte herauszubekommen, wie nahe das Läuten war. Ich zog in
schneller Abfolge und spielte einen einfachen Rhythmus. Bim, bim, bim-bim. Bim, bim, bim-bim.
Das gehört sich nicht, war die erste Lektion, die mir erteilt wurde, als ein
Scheusal von einem Mann aus der winzigen Tür spähte. Er musste den Umstand gar
nicht in Worte fassen, das Funkeln seiner Augen genügte. Ich ließ das Seil los,
lächelte unschuldig und trat einen Schritt auf ihn zu. Er erwiderte mein
Lächeln nicht.
»Guten Abend, der Herr«, sagte ich.
»Weg mit dir«, erwiderte er.
»Hört«, sagte ich, »ich muss mit
Amalia Duft sprechen, äh, Riecher. Sie wohnt hier.« Ich zeigte auf die Fassade.
»Wenn du noch einmal an der Schnur
ziehst«, sagte er, meine Bitte offensichtlich nicht verstehend, »lege ich sie
dir um den Hals und ziehe zu.« Sein Kopf war schrecklich groß. Ich erspähte den
Umriss von massiven Schultern und keinen Hals dazwischen.
»Nur kurz«, sagte ich, »nur um ihr zu
sagen, dass …« Ich verstummte, denn in Wirklichkeit wusste ich nicht, was ich
ihr sagen wollte. Während meiner monatelangen Reise hatte ich mir diesen Moment
etwas anders vorgestellt. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie mich selbst an
der Tür begrüßen würde. »Lass uns fliehen«, hätte ich gesagt, und wir wären
geflohen. Ganz einfach – ohne dass viele Worte nötig gewesen wären. Aber welche
Botschaft konnte ich ihr jetzt schicken, wo mir ein Zerberus den Weg
versperrte? Sagt ihr, dass der Mann, den sie liebt,
nicht tot ist, war zum Beispiel nicht
geeignet. So viel wusste ich schon, dass verbotene Liebesdinge am besten
tête-à-tête abgehandelt werden.
Aber ich konnte auch nicht so leicht
aufgeben.
»Darf ich Euch etwas zeigen?«, fragte
ich den Zerberus. Ich wies die Straße hinunter. »Etwas, das Euch interessieren
wird. Sehr sogar. «
Als er durch die Tür trat, musste er
eine Schulter nach vorn schieben, damit er hindurchpasste. Und dann stand er
vor mir, und sein Kopf überragte mich. In Windeseile verstand ich, dass er
nicht herausgekommen war, um den verlockenden Anblick zu betrachten, den ich
ihm versprochen hatte. Vielmehr wollte er mir eine Botschaft übermitteln. Er
machte ein Zeichen, dass ich näher kommen sollte. Als ich das tat, ergriff er
meine Haare und knurrte mir ins Ohr: »Ich mag dein Gesicht nicht. Wenn ich es
je wieder hier sehe, verändere ich seine Proportionen, damit es mir besser
gefällt.«
Aber mein Haar war so fettig, dass er
es nicht fest genug halten konnte. Ich wand mich aus seinem Griff und
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