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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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flitzte
wie ein anmutiger Tänzer durch die Tür. Ich wollte sie gerade zumachen und ihn
aussperren, als er mich am Handgelenk packte. Er zerrte mich wieder nach
draußen und hob mich in die Höhe wie einen riesigen Wels, den er im Fluss
gefangen hatte. Dann schleuderte er mich auf die Straße und schloss die Tür
hinter sich.
    Da stand ich nun. Ich hatte mir den
Ellenbogen aufgeschürft. Der Eingang war jetzt fest verschlossen. Ich konnte
die Glocke nicht noch einmal läuten, ohne dass der brutale Kerl mich
verunstaltete, und selbst wenn ich das Glück hatte, an dem Mann vorbeizukommen,
würde ich mit Sicherheit auf jemanden treffen, der die nächste Ringmauer dieses
schönen Hauses bewachte: auf einen Diener oder vielleicht ein männliches
Mitglied der Familie Riecher. Sie würden sich nach meinem Anliegen erkundigen.
Wenn ich ihnen sagte, warum ich gekommen war, würden sie mich im besten Fall
hinauswerfen, im schlimmsten Fall einsperren und dann Amalia an einem fernen
Ort verstecken, wo ich sie vielleicht nie wieder finden würde.
    Nein, entschied ich, ich hatte
voreilig gehandelt. Ich musste auf andere Weise in das Haus gelangen.
    Die Fenster im Parterre waren mit
prunkvollen Eisenstäben versperrt, die Fenster weiter oben nicht, aber sie waren
bestimmt fest verschlossen, und ohnehin wusste ich nicht, wie ich dort
hinaufgelangen sollte. Ich erkannte, dass das Palais Riecher ein Gefängnis war
und meine Liebste darin in der Falle saß.
    Entmutigt drehte ich mich um, aber
dann fragte ich mich: Was hätte der tapfere Nicolai an meiner Stelle getan? Das
setzte meine Vorstellungskraft in Gang. Ich spann Fantasien: Ich könnte mich
als Kaminkehrer verkleiden; ich könnte eine Sau auf dem Markt stehlen, in der
Küche abliefern und mich dann in einem Wandschrank verstecken; ich könnte den
Zerberus aber auch mit einem Pfeil beschießen, dessen Spitze vergiftet war,
sodass er einschlief. Aber all diese Ideen ließen mich den Kopf schütteln, denn
sie krankten an demselben Fehler. Dass es mir nämlich an den geeigneten Mitteln
fehlte, um sie in die Tat umzusetzen. Ich besaß nicht einmal eine saubere Hose
und hatte auch noch keinen Ort entdeckt, wo ich eine stehlen konnte.
    Natürlich konnte ich in diesem
Augenblick nicht wissen, dass ich einen Tag später die Möglichkeit erhalten
würde, das Palais Riecher zu betreten, und zwar nicht mit Hilfe einer List,
sondern weil die Hausherrin persönlich mich dazu einladen würde.
    Folge mir an diesem wundersamen
Abend, als ich am Schottentor wieder in die Schottengasse einbog und ins Herz
der Inneren Stadt gelangte. Ich schlenderte ziellos umher und lauschte dem
Klimpern von Silber an Wiens schönsten Zähnen, das aus den eleganten
Wohnhäusern an der Straße drang, als eine Kutsche mich überholte und dann
zwanzig Schritt vor mir anhielt. Ich achtete nicht darauf, selbst als ein Mann
ausstieg, die Kutsche wegschickte und auf der Straße stehen blieb, während ich
mich näherte.
    Ich war nur ein paar Schritte
entfernt, als er zu lachen begann, zunächst ungläubig durch die Nase
schnaubend, dann, als ich näher kam, mit einem aus dem Bauch schallenden
Gelächter, das mich sehr erschreckte. Sein tiefes, leichtes Atmen sagte mir,
dass er entweder Musiker oder Tänzer war – und er war zu fett für einen Tänzer.
In der Dunkelheit konnte ich sehen, dass sein rundes Gesicht entweder vom
Wohlwollen oder vom Wein gerötet war.
    »Orpheus«, sagte der Mann. »Du hast
dich selbst übertroffen.«

IV.
    Der Mann sah mich ernst an,
konnte aber nicht an sich halten und brach noch einmal in Gelächter aus, als er
näher trat. Er beugte sich zu mir und schnüffelte an meinem Kragen, bis er
angewidert zurückwich. Aber dann grub er zu meiner großen Überraschung sein
Gesicht in meine Schulter und atmete meinen Gestank ein, als wäre ich eine
Rose.
    »Nur ein Sohn Garricks«, sagte er mit
einem Quieken, als würden seine Lungen nie wieder Atem holen, »würde es wagen,
so schlecht zu riechen. Was habt Ihr gemacht? Den Tag in einem Bordell in
Spittelberg verschlafen? Zeigt mir Eure Hände.«
    Ich hielt meine schmutzigen Hände in
die Höhe und spreizte die Finger, damit er die Dreckschicht sehen konnte, die
sich zwischen ihnen gebildet hatte.
    »Oh Gott«, sagte er. »Diese Hände sind
so viel wert wie diese Ohren.« Er zog an seinen eigenen Ohrläppchen. Dann kniff
er mir in den Nacken. »Und dieser Hals, der anscheinend einen Ausschlag von dem
Hemd bekommen hat, das Ihr im Fluss gefunden

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