Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
trat unter sie. Der Klöppel hing
ein paar Zoll vor meinem Gesicht. Ich sah, dass man ihn mit Leder umhüllt
hatte, um das mächtige Läuten der Glocke zu dämpfen. Ich wollte diese
Polsterung abreißen, damit ich sie so hören konnte, wie sie klingen sollte,
aber wenn der Klöppel angeschlagen wurde, sprang und zappelte er, und mir wurde
klar, dass ich schnell ohne Finger dastehen würde, wenn ich ihn berührte. Doch
in diesem Moment versprach ich, dass ich eines Tages zurückkommen und sie
befreien würde. Der untere Rand der Glocke, die Schärfe, zischte direkt über
mein Haar. Wäre ich in die Höhe gesprungen, hätte sie mir den Kopf abgerissen.
Ich schloss die Augen. Die Macht ihres
Luftstroms ließ mich hin und her schwanken. Mein Unterkiefer hing nach unten,
meine Arme waren schlaff, die Hände geöffnet. Ihr Klang berührte mich überall.
Er kitzelte die Innenseiten meiner Oberschenkel und ließ meine Augenlider
beben. Meine Finger summten. Meine Muskeln – verspannt vom Laufen, vom Schlafen
unter Büschen, von meiner Einsamkeit – wurden gelöst und wieder zum Klingen
gebracht. Was starr an mir geworden war, machte die Glocke wieder weich. Ich
bewunderte ihre vielen Töne, die den unendlichen Schattierungen eines
Sonnenuntergangs glichen. In ihnen waren auch die Glocken meiner Mutter – als
bloße Wellen in diesem mächtigen Ozean.
Ihr Dröhnen milderte sich.
Ich öffnete die Augen und erkannte,
dass ihr Schwingen stark nachgelassen hatte; die sechzehn Männer hatten ihre
Seile losgelassen. Viele Minuten lang ließ die Wucht ihrer Bewegung sie weiter
an den Klöppel schlagen. Und selbst als sie den Klöppel nicht mehr berührte,
schallte ihr Körper noch minutenlang, und das einzige Geräusch war die Luft,
die um sie zischte, als sie sanft schaukelte – bis auch das aufhörte und mein
Atem und der Lärm der Stadt ganz unten die einzigen Laute in der Luft waren.
Dann hörte ich Schritte. Eine Hand
ergriff meine Schulter und drehte mich sanft herum.
Es war der Wächter. Ich starrte über
seinen kahl werdenden Kopf hinweg, auf dem sich Schweißtropfen sammelten. Es
dauerte eine ganze Weile, bis sein keuchender Atem ihm erlaubte zu sprechen.
»Der Aufenthalt hier oben ist
verboten«, rief er und bewegte seine Lippen sorgfältig, damit ich von ihnen
ablesen konnte, denn er nahm an, ich wäre taub. Aber ich sah seine Lippen nur
am Rande meines Gesichtsfelds, weil mein Blick auf die Aussicht in seinem
Rücken gerichtet war. Ich legte eine Hand auf seine Schulter, um nicht zu
fallen. Er führte mich zum Rand.
Die Arme um die Schultern des anderen
gelegt, sahen wir auf eine Stadt hinunter, die prächtiger war, als ich mir das
je hätte ausmalen können. Breite Straßen, überfüllt mit Pferden und Kutschen
und Menschen, die wie winzige Ameisen wimmelten, führten vom Platz aus in alle
Richtungen. Rechteckige Paläste mit Höfen voller Blumen drängten sich überall
zwischen diesen Verkehrswegen. All das wurde von hohen Befestigungswällen
zusammengehalten, sie bildeten einen vielzackigen Stern. Und hinter diesen
Mauern gab es noch mehr Stadt, bis hin zu den grünen Hügeln in der Ferne.
»Mein Gott«, sagte ich zu dem Mann,
der mich stützte. »Was ist das für ein Ort?«
»Das, mein Herr«, sagte er, als
spräche er zu einem Schwachsinnigen, »das ist die Stadt Ihrer Majestät. Das ist
Wien.«
Und so war ich schließlich nach
fast einem Jahr des Reisens in derselben Stadt angelangt wie meine Geliebte.
Aber sogleich erhob sich eine teuflische Stimme, die all diese Monate
geschwiegen hatte, und flüsterte mir ins Ohr: »Woher willst du wissen, dass sie
dich noch liebt? Sie ist jetzt mit einem Mann verheiratet.«
Ich muss zugeben, ich hatte nicht
erwartet, dass Wien so groß war und so voller Menschen, die, wenn ich auf sie
zustolperte, auf meine Lumpen und mein schmutziges Gesicht sahen, als wäre ich
ein Tier, das sich aus dem Wald hierher verirrt hatte. Aber dann schloss ich
meine Augen, ließ die Geräusche der Stadt an mir vorbeiziehen und erinnerte
mich an all unsere geheimen Klänge der Liebe, und mein Zutrauen war wieder
hergestellt.
Den ganzen Tag lief ich durch die
Innere Stadt, suchte nach einer Spur von Amalias Klängen und sammelte bei
meiner ziellosen Wanderung andere, die mich erfreuten. Ich kehrte nur um, wenn
ich in eine Sackgasse geriet oder an eines jener Tore, durch die ich diesen
magischen Ort verlassen würde. Einmal nur wagte ich einen Blick auf das, was
hinter den Mauern lag;
Weitere Kostenlose Bücher