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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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schmaler. Wir waren im Zentrum einer
Stadt. Statt des schlammigen Ufers gab es zu beiden Seiten Kais aus Stein, auf
denen lebhafte Bewegung herrschte. Das Dröhnen erklang wieder, sogar noch
lauter und andauernder, und die nächste Runde begann, bevor die letzte
verklungen war. Es hörte sich an, als ob ein Riese mit schweren Schritten über
den Himmel liefe.
    »Schnell!«, rief ich meinem Kapitän
zu.
    Der Dummkopf war so träge wie die
Strömung. Ich sprang zum Bug und beugte mich hinaus, damit ich mit dem Eimer
paddeln konnte. Meine Übelkeit hatte ich fast vergessen. Der picklige Junge
stand neben mir.
    »Ist etwas mit dir nicht in Ordnung?«,
fragte er und klopfte mit dem Finger an meine Schläfe.
    Ich warf die Hände in die Höhe. Wenn
seine stumpfen Ohren die Bedeutung des Klangs nicht verstanden, konnte ich sie
ihm nicht in einem kurzen Moment erklären. Schließlich näherten wir uns dem
hohen Kai, der mit mehr Menschen bevölkert war, als ich je gesehen hatte – ganz
Sankt Gallen auf engem Raum zusammengepfercht. Männer und Pferde und Karren
schoben sich aneinander vorbei, um nicht in das stinkende Wasser gestoßen zu
werden. Wieder ging das dröhnende Läuten durch die Welt. Die Oberfläche des
Flusses kräuselte sich, ein paar Männer bedeckten ihre Ohren, aber keiner sah
nach oben (obwohl ein schwer beladenes Maultier klagend in den Himmel schrie,
als wolle es ihn anflehen, nicht herunterzufallen).
    Wir schienen nahe genug an der
Steinkante zu sein, und deshalb sprang ich, aber niemand hatte mir je Newtons
Grundsätze der Bewegung erklärt. Die Wucht meines Sprungs verlangsamte das
Boot, und deshalb ging mein Sprung mehr in die Höhe als in die Weite. Ich
konnte gerade noch die Mauer ergreifen, als ich nach unten fiel und meine Beine
bis zu den Knien in der stinkenden Brühe versanken. Aber ich fand keinen Halt
und wäre abgerutscht und ertrunken, hätte nicht der picklige Junge mein Hemd zu
fassen gekriegt und mir geholfen, zurück ins Boot zu klettern.
    Er hielt mir einen Vortrag über die
Gefahren des Schwimmens im Donaukanal, aber dafür hatte ich keine Zeit; nach
meinen Berechnungen hatte ich bereits mehrere Jahre verschwendet und mir
blieben nur noch Minuten, bevor das Läuten aufhören würde. Und es rief mich! Also
sprang ich noch einmal, und dieses Mal landete ich in der Menschenmenge.
    Mit der Stirn stieß ich gegen einen
Rohling, der in jeder Hand ein lebendiges Huhn trug, und mit einem davon
versuchte er mich zu schlagen, als ich losstürmte. Ich rannte den überfüllten
Kai entlang, der von den höchsten Mauern begrenzt wurde, die ich je gesehen
hatte – höher als Staudachs Palast und ohne ein einziges Fenster. Das Dröhnen
kam von der anderen Seite dieser Befestigung, und so kletterte ich zwischen
einem Pferd und seinem fahrenden Wagen hindurch und gelangte zu einem Tunnel
voller Leute.
    So viele Geräusche! Das Heulen eines
einäugigen Idioten, das Klirren von Kupfermünzen in der Holzschale eines
Aussätzigen, das Quietschen eines verzogenen Rades an einem Karren, das Fauchen
einer schwarzen Katze, die durch eine Krankheit ihr halbes Fell eingebüßt
hatte. Als ich mich durch den Tunnel schob, hörte ich zahllose Sprachen, von
denen ich nie geglaubt hätte, dass sie in einer einzigen Welt existieren
könnten, und alle riefen, um über dem Lärm gehört zu werden: geschnattertes
Ungarisch, gesäuseltes Tschechisch, heiseres Holländisch, verführerisches
Französisch, lautes Italienisch, das wie ein Ball von meinem Kopf abprallte. Es
war dunkel in dem Tunnel, aber ich war der Größte in der Menge und konnte bis
zum Fleischmarkt auf der anderen Seite sehen. Ich hatte niemals ein solches
Schlachten gehört: Hackbeile zerteilten die dicken Beine von Kühen; Klingen
kratzten Fischschuppen ab; eine Ziege klagte lauthals, als sie am Seil zu ihrem
Mörder gezerrt wurde; eine Frau mit Armen so dick wie Holzpfosten entbeinte ein
Schaf und ließ die Fleischstücke auf einen blutverschmierten Tisch klatschen;
ein Kind löste mit einem rostigen Messer Kaldaunen aus; ein einbeiniger Mann
hockte vor einem Berg Fleischabfall und schwang seinen Stock gegen Vögel, die
versuchten, Augen und Hufe zu ergattern.
    Und immer noch das Läuten.
    Es war lauter auf dieser Seite der
Befestigungsmauern. Ich fühlte es in meinen Zehen und in meinem Rücken. Ich
verfolgte es durch eine breite Straße mit prächtigen Häusern, jedes einzelne so
groß und hoch wie Staudachs Abtei. Durch die Fenster hörte ich

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