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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Cembalos, das
Klirren von Kristall und das Klappern von Silber. Die Straße war mit
gleichmäßigen Kopfsteinen gepflastert. Ich passte dem Läuten meine Schritte an
und sprang bei jedem vierten Schritt in die Höhe, sodass der Klang mich traf,
wenn ich in der Luft war. Ich nahm die Million Töne des Klangs auseinander. Ich
hörte die hohen Noten in meinen festen Wadenmuskeln und die tiefen in meinen
Armen, die unbeholfen an meiner Seite schwangen wie gebrochene Flügel.
    Je weiter ich lief, desto größer und
prunkvoller wurden die Häuser, desto regelmäßiger die Kopfsteine, desto weniger
widerlich die Gerüche. Die Straße wurde schmaler, dann wieder breiter, und ich
sah vor mir einen riesigen Platz. Hier hielten sich alle Leute die Ohren zu und
beeilten sich, an ihr Ziel zu gelangen, als wollten sie einem Hagelschauer
entkommen. Ich stand plötzlich auf dem größten Platz, den ich je gesehen hatte,
und erblickte ein dunkles Gebäude, das so groß wie ein Berg war. Ich sah hinauf
in die Sonne, hinauf zu dem Geräusch, das mein Herz zittern ließ, entdeckte
einen aufragenden Schatten und wusste, dass ich hinaufklettern musste. Ich
rannte ins Innere des schwarzen Berges. Ich schob faltige Großmütter und
trauernde Witwen einfach zur Seite. Ich rannte einen General um, sodass er auf
die Knie fiel, und ließ heiliges Wasser auf den Boden spritzen. Fensterscheiben
so rot wie Blut machten blasse Gesichter rosig. Von dem beständigen Läuten
abgesehen waren meine Schritte auf den schwarzweißen Bodenfliesen das lauteste
Geräusch in dem Gebäude, das eine riesige Kirche war, wie ich jetzt
feststellte. Ich blieb in der Mitte des Schiffs stehen und sah nach oben. Die
Decke sah aus wie das Dach eines Waldes: In die Höhe strebende graue Säulen verzweigten
sich zu verschlungenen Ästen aus Stein, die den Himmel hätten tragen können.
    Ich hätte die Säulen erklommen und
mich in ihre Äste gehängt, aber dann sah ich einen kleinen Mann und hinter ihm
eine schmale Tür. Der müde, stumpfe Ausdruck auf seinem Gesicht erinnerte mich
sofort an den gehorsamen Peter, der vor so vielen Jahren Wache vor Frau Dufts
Krankenzimmer gehalten hatte.
    Durch die offene Tür sah ich eine
Treppe. Ich rannte, wurde schneller, als ich die Kirche durchquerte. Der kleine
Mann sah mich kommen, denn seine Augen weiteten sich bei meinem Ansturm, und
seine Zunge begann nervös in seinem Mund zu arbeiten. Er hielt die Hände in die
Höhe – ein Bär, der seine Höhle verteidigt. Doch er war ein winziger Bär, ein
Bärenjunges, nicht halb so groß wie ich, und als ich auf ihn zusteuerte und ihn
gegen die Treppe zu schleudern drohte, sah er im letzten Moment geistesabwesend
zum Altar und trat zur Seite. Ich duckte mich in der Türöffnung, um mir nicht
den Kopf zu stoßen, und stürmte die gewundene Treppe hinauf.
    »Mein Herr«, rief er mir nach, »Ihr
könnt nicht dorthin. Eure Ohren …«
    Ich schlängelte mich immer weiter nach
oben, mein Kopf drehte sich, aber ich musste mich beeilen. Ich platzte in einen
quadratischen Raum und sah sechzehn Männer, die mir den Rücken zuwandten. Ihre
Ohren waren zugestopft und mit Stoff umwickelt, und sie zogen an sechzehn
Seilen, die durch die Decke hingen. Sie rissen daran, bis sie auf dem Boden
saßen. Das Dröhnen erklang und ließ all meine inneren Organe beben. Dann
spannten sich die Seile, und die sechzehn Männer hielten sich fest und sprangen
wie russische Ballerinen in vollkommenem Gleichklang fünf Meter in die Höhe.
Wenn sie oben waren, ertönte wieder dröhnendes Getöse.
    Aber für diese Szene hatte ich nicht
mehr als einen Blick übrig. Ich hastete eine noch engere Treppe hinauf, die so
steil war, dass ich sie mit Händen und Füßen ersteigen musste.
    Dann erreichte ich die Spitze und
gelangte in einen Raum, dessen vier Seiten zum Himmel offen waren. Und da war
sie: die Pummerin, die größte Glocke des Kaiserreichs, gegossen aus 208
türkischen Kanonen. Sie war doppelt so hoch wie ich. Ihr Klöppel war so lang
und so dick wie ein Baumstamm. Die Seile der sechzehn Männer waren hier zu
einem einzigen Strang geschlungen, der ein Rad mit einem Durchmesser von
zwanzig Fuß bewegte. Sein Drehen brachte die Glocke zum Schwingen. Sie
durchschnitt die Luft wie der Bug eines dahineilenden Schiffes. Auf der Höhe
jedes Schwungs stieß der Schlagring auf der Innenseite ihres unteren Rands
gegen den Klöppel, und ihr Schlagton – ein vollkommenes, durchdringendes B –
dröhnte über die Stadt.
    Ich

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