Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
habt, ist zehnmal mehr wert.
Durazzo wird toben. Aber als Aussage ist es sehr wirksam. Lebe wohl,
Künstlichkeit!«
Der Mann blinzelte mich in der
Dunkelheit an, als sei er überrascht, dass meine Nase so groß war. Ich sagte
kein Wort, Gott sei Dank. Ein einziges Wort – »Grüezi« oder sogar »Was?« –
hätte diese Begegnung so abrupt beendet, wie sie begonnen hatte. Aber zum Glück
neigte ich immer noch zum Schweigen, und der Mann überwand seine Zweifel und
sagte: »Dann wollen wir Euer Haus eben nicht als Hausherr und Freund betreten,
sondern als Künstler.« Er legte eine Hand auf meine schmutzigen Lumpen und
schob mich zu einem prächtigen Haus aus Stein, das eingeklemmt zwischen zwei
anderen stand. Er läutete. Ein sehr großer breiter Diener – von der Art, wie
sie nur auf böhmischen Bauernhöfen gedeiht – öffnete die Tür.
»Oh!«, rief der Diener aus.
»Oh?«, fragte mein Begleiter mahnend.
»Oh? Spricht man so zu einem Genie?« Der Diener trat mehrere Schritte zurück
und stieß gegen eine Wand. Er zwang sich zu einer leichten Verbeugung.
»Ch-Chevalier Gluck«, murmelte er.
»Man wartet schon auf … auf Euch.«
»Und wir werden sie nicht
enttäuschen!«, rief dieser Gluck und stieß einen Ellenbogen in meine Rippen.
Der Diener fasste sich und führte uns weiter in das prächtige Haus, dessen
Lavendelgeruch meinen Gestank nicht überdecken konnte.
Gluck kicherte mir ins Ohr. »Euer
eigener Boris hält Euch für einen Landstreicher«, flüsterte er.
Ich gab dem scharfsinnigen Boris
Recht, aber dieser warf nicht einmal einen Blick auf mich zurück, als er uns
über die breite, mit Teppichen belegte Treppe dorthin führte, wo sich gelegentlich
das Geräusch von fröhlichem Gelächter über dem leisen Summen ernsthafter
Unterhaltung erhob. Boris ließ uns durch eine Flügeltür eintreten, und ich fand
mich plötzlich bei der ersten Soiree meines Lebens wieder.
In dem Ballsaal befanden sich etwa
zwanzig Herren, dazu ein paar Damen. Selbst die jüngsten Männer hatten lange
weiße Haare, und jede Nase im Raum schien spitz zu sein, bis ich feststellte,
dass dieser Umstand einem allgemeinen Anheben des Kinns zuzuschreiben war. Die
Männer und Frauen standen dicht gedrängt in Grüppchen beisammen und sprachen so
auffällig im Flüsterton, dass ich sicher war, eine diplomatische Konferenz von
allergrößter Bedeutung unterbrochen zu haben. Vier Männer, die bei einem
Cembalo standen, schienen die leitenden Gesandten zu sein, denn wenn sie
irgendetwas ausriefen, sahen alle Augen im Raum erwartungsvoll, fast
hoffnungsvoll in ihre Richtung.
Unser Eintritt unterbrach diese Szene.
Als Gluck auf die Gruppe der vier Männer zuging, hörte man überall im Raum
»Ooh!« und »Ahh!«, als hätte ein Pfau soeben sein Rad geschlagen. Gläser wurden
erhoben, eins höher als das andere.
Und dann sahen alle Augen auch auf
mich. Die Gläser senkten sich. Der Raum wurde still.
Schließlich trat einer der vier Männer
vor. »Chevalier Gluck, qui est-il?«
Ich sprach noch kein Französisch, aber
mir war klar, dass alle Anwesenden wissen wollten, was dieser Vagabund in ihrer
Mitte zu suchen hatte. Gluck lächelte verstohlen. Er sah ernst auf die
Versammelten, ließ aber seinen Blick zuerst auf jedem der vier wichtigen Männer
ruhen: »Signor Calzabigi, Signor Angiolini, Signor Quaglio, Generalintendant
Durazzo, meine Damen und Herren.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Das ist
die Zukunft unserer Kunst.«
Er ließ diese Aussage wirken, lief
langsam einmal um mich herum, betrachtete meine zerfetzten Lumpen, als wären es
die elegantesten Kleider, die er jemals erblickt hatte. »Keine Pfauenfedern,
keine diamantbesetzten Westen, keine Schminke im Gesicht. Er sieht nicht wie
ein Kasper aus. Werft einen Blick auf ihn und Ihr versteht seine Botschaft.« Er
hob einen Finger zur Decke. »Künstlichkeit ist nicht gleich Kunst.«
Gluck nickte ernsthaft und machte ein
paar Schritte in den Raum, dann kehrte er zu mir zurück und zwang alle Gäste
zum Wegsehen, wie es ein Vater mit seinen unartigen Kindern tun würde. »Für
diese Oper beleben wir nicht den Orpheus wieder, den jedes Publikum hundertmal
gehört hat. Nicht den Orpheus von Neapel und auch nicht den von Venedig. Nein.
Das ist vorbei. Mit meiner Musik, mit Signor Calzabigis erstaunlichem Libretto
beschwören wir vielmehr den Orpheus, der vor langer Zeit gelebt hat, der keine
Federn im Haar trug, der die schönste Musik sang, die es je gab, und
Weitere Kostenlose Bücher