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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Statue, denn ich befürchtete, dass ich bei der kleinsten
Bewegung die weißen Wände mit meinem Dreck beschmutzen würde. Wo war die
Eingangstür? Schließlich kehrte Boris mit einem Stapel Kleidung über dem Arm
zurück.
    »Er folge mir«, sagte er, und in
seiner Stimme lag weder Respekt noch Verachtung. Er führte mich über eine enge
Holztreppe in den Keller, wo es einen Waschraum für die Bediensteten gab. Eine
Holzwanne war halb mit Wasser gefüllt, das gewiss hätte heißer sein können,
aber da es das erste warme Wasser war, mit dem meine Haut seit vielen Monaten
in Berührung kam, beklagte ich mich nicht darüber. Ich schloss die Tür und
verbarrikadierte sie mit einer Holztruhe, bevor ich meine schmutzigen Lumpen
auszog und in die Wanne stieg.
    Unter den Schichten von Schmutz kam
helle Haut zum Vorschein. Ich ließ Seife in meinen Händen schäumen, bis meine
Fingerkuppen faltige rosa Ovale waren. Mein Haar verlor die fettige Last eines
Jahres, und als es trocknete, bauschte es sich zu einem flaumigen Kranz und war
so fein wie das Gefieder eines Vogeljungen.
    Als ich sicher war, dass ich jeden
Zoll Haut abgeschrubbt hatte, stieg ich aus der Wanne und stellte mich vor den
Spiegel. Ich betrachtete eingehend meinen nackten Körper. Kein Kastrat ist
muskulös, aber nach einem Jahr der Wanderschaft in den Alpen hatte mein
unbehaarter Körper die Geschmeidigkeit einer Nymphe angenommen. In meinen
Schenkeln entdeckte ich eine Spur jener anderen nackten Beine, an die ich
während des Jahres in Ulrichs Raum unter dem Dach mein Ohr gelegt hatte. Die
hervortretenden Knochen in meiner Brust und in meinem Becken waren die Knochen
eines Mannes, aber der milchige, fleischige Ton meiner Haut glich jener, die
ich so oft geküsst hatte.
    Ich war unbehaart, aber vom Schmutz
befreit leuchtete ein goldener Flaum unter meinen Armen, über meinen Lippen und
unter meinem Nabel, wo ein Pfeil davon nach unten zeigte. Als ich den Arm in
die Höhe hob, wogte die Bewegung über meine runde Brust und meinen langen Bauch
und löste sich in meinen Oberschenkeln auf. Mein Jahr des Wanderns hatte die
Statur zur Reife gebracht, an der Ulrich so hart gearbeitet hatte. Der Kastrat
im Spiegel sah nicht schwächlich aus. Seine Füße standen fest auf dem Boden,
und ein unsichtbares Seil schien seine Schultern direkt mit dem Himmel zu
verbinden. Es war ein prächtiger Körper, der nur einen einzigen Makel in seiner
Mitte hatte.
    Einen Bruder des Messers hatte Guadagni mich genannt; das hatte ich immer
gefürchtet: erkannt zu werden. Es war gar nicht notwendig gewesen zu singen.
Auch ich hatte es ihm sofort angesehen. Ich hatte einen Schatten des anderen
Musico, Antonio Bugatti, erkannt. Ihre weichen, engelsgleichen Gesichter, ihre
Anmut, ihre geschmeidigen Stimmen – all das zeichnete auch meinen Körper aus. Orpheus . Der Name hallte noch
in meinen Ohren nach. Orpheus . Und als ich den nackten Engel im Spiegel betrachtete,
erfüllte mich Stolz. Wenn Guadagni der Orpheus für ein Kaiserreich sein konnte,
dachte ich, konnte ich gewiss der Orpheus für eine einzige Frau sein.
    Boris’ Hosen waren fast lang genug,
aber ich konnte die Weste über meiner Brust nicht zuknöpfen. Meine Handgelenke
ragten aus der Jacke hervor und die Schuhe drückten, sodass ich sie nicht
zubinden konnte. Ich betrachtete mich im Spiegel. Noch nie hatte ich so gut
ausgesehen.
    Auf dem Korridor erwartete mich ein
Tablett mit einem Teller voller trockenem Brot und Fleischstückchen – für
jemanden mit meinem Talent fürs Stehlen ein mageres Mahl. Ich sprang die Treppe
hinauf. Da ich kein Eindringling mehr war, konnte ich selbst meinen Weg hinaus
finden.
    In dem Haus, das Guadagni bewohnte,
lagen Teppiche auf den Holzböden und an den Wänden hingen Landschaften in
goldenen Rahmen. Es war so still, als wären die Gäste gegangen und die Diener
zu Bett geschickt worden, während ich gebadet hatte. Ich fand die Eingangstür,
griff nach dem blanken Messinggriff und wollte gerade ungesehen
hinausschlüpfen. Aber da hörte ich etwas, das mich den Atem anhalten ließ.
    Ein Cembalo begann zu spielen. Ich
hörte sofort, dass ein Meister an den Tasten saß. Ich ließ mich von dem Klang
fortziehen, weg von der Tür, die Treppe hinauf, schnell und leise, weil ich
Angst hatte, dass die Musik enden würde, wenn ich ein Geräusch machte.
    Als ich mich der offenen Tür näherte,
aus der die Musik kam – derselbe Raum wie vorher, bemerkte ich –, fand ich
Boris und die anderen Diener

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