Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
mir eine Partitur. Ich überflog sie eifrig und wurde sofort von
Enttäuschung überwältigt.
»Aber es ist … ich kann nicht …«,
stammelte ich.
»Es ist zu hoch für ihn.« Glucks
Hocker schrammte über den Boden, als er aufstand, die Hände erhoben, als wolle
er mich aus dem Raum schieben.
»Nein«, sagte ich. »Es ist nicht zu
hoch.«
»Und was ist dann das Problem?«,
fragte Guadagni.
»Es sind die Wörter«, sagte ich. »Sie
sind nicht lateinisch.«
Guadagni schürzte die Lippen, und alle
sahen, dass er sich das Lachen verkniff.
»Ist das Italienisch?«, fragte ich.
Guadagni nickte. »Das ist es in der
Tat.«
»Ich spreche kein Italienisch«, sagte
ich. Im Raum wurde es ganz still. »Ich weiß nicht, wie ich die Wörter
aussprechen soll.«
Guadagni nahm mir die Blätter aus der
Hand, ganz sanft, als wären sie ein Schatz, den er einem Kind entwand. »Er
spricht kein Italienisch?«, fragte er leise, aber laut genug, dass jedes
bemühte Ohr es hören konnte. »Aber Er ist ein Kastrat.«
Ich nickte. Trotz seiner Gelassenheit
errötete ich.
»Das ist unmöglich«, sagte Guadagni.
»In welchen Häusern hat Er gesungen?«
»Häusern?«
»Theatern.«
»Ich habe noch nie in einem Theater
gesungen.«
»Aber wo hat Er dann singen gelernt?«
»Im Kloster«, sagte ich. »In der Abtei
von Sankt Gallen.«
Guadagni wandte sich an Gluck. »Wo ist
das?«
»In der Schweizerischen
Eidgenossenschaft«, sagte Gluck. Ich nickte.
»Aber es gibt keine Musici in
deutschen Landen«, sagte Guadagni verwundert. Gluck schüttelte zur Bestätigung
leicht den Kopf. Plötzlich strahlte Guadagni über das ganze Gesicht. Er
lächelte mich an. »Das ist ganz außergewöhnlich. Wie lange ist Er schon in
Wien?«
»Ich bin heute angekommen.«
»Heute!«
Guadagni begann zu lachen, und sein
Lachen war so mächtig wie sein Gesang. Bald lachte jeder im Raum mit ihm über
diesen erstaunlichen Musico, der kein Italienisch sprach und aus einem Land
kam, in dem es solche wie ihn gar nicht gab. Boris schien zu denken, es sei
eine gute Gelegenheit, mich zu entfernen, und dieses Mal ließ ich mich von ihm
wegziehen.
Aber Guadagni hielt eine Hand in die
Höhe. Boris und ich erstarrten, und die Zuschauer verstummten sofort. Guadagnis
verächtlicher Blick streifte jeden seiner Gäste, als suche er unter diesen
Geiern nach einem einzigen edlen Herzen. »Genau wie dieser arme Musico«, sagte
er, »war auch ich auf keinem conservatorio , das mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Ich
habe allein gelernt, was zu lernen war. Und ich werde ihn nicht im Stich
lassen.
Morgen«, sagte er zu mir, »melde Er
sich im Burgtheater. Er soll Gaetano Guadagnis Schüler werden.«
V.
»Der Herr ist zu Besuch in
der Stadt, nicht wahr? Kann ich ihm behilflich sein?«, hatte der Junge gefragt,
nachdem ich mich am nächsten Morgen von meinem harten Lager auf dem Kai erhoben
und dreimal um mich selbst gedreht hatte, wobei mich eine einzige Frage
bewegte.
»In der Tat«, sagte ich. »Bist du in
dieser Stadt heimisch?«
»Der Vetter meines Onkels ist
praktisch der König«, sagte er stolz und streckte die Brust heraus, die so
mager war, dass ich sie mit meinen Händen hätte umfassen können. Ich fragte
mich, wann er zuletzt etwas zu essen bekommen hatte.
»Das ist gut«, sagte ich. »Ich brauche
eine Wegbeschreibung. Kannst du mir helfen, ein Theater zu finden? Burgtheater
wird es genannt.«
»Das Theater nächst der Burg«,
erwiderte er mit einem Nicken. »Michaelerplatz. Lothar wird ihn dorthin
führen.«
Das tat er. Gleich nach Tagesanbruch
marschierte ich hinter ihm her durch die schlafende Stadt. Es ging den sanften
Hügel hinauf, zu unserer Linken türmte sich die schwarze Kirche im Morgennebel
auf und überall auf dem Pflaster lagen dampfende Pferdeäpfel. Wir bogen nicht
nach rechts oder links ab, und die Häuser am Straßenrand wurden immer größer
und prächtiger.
Schon zehn Minuten später traten wir
auf einen Platz. »Der Michaelerplatz«, sagte Lothar und verbeugte sich.
Ich staunte. Über mir zeichneten sich
gegen den heller werdenden Himmel scharf die Giebel der größten Gebäude ab, die
ich je gesehen hatte. Und vor uns stand ein prachtvoller Palast, der in der
Höhe mit Kuppeln und weißen Reiterstatuen geschmückt war.
»Mein Gott«, sagte ich zu meinem
Führer und zeigte an dem Gebäude hinauf. »Ist dies das Theater?«
»Nein«, sagte er. »Das ist die
Winterreitschule – für die Prinzessinnen und ihre Ponys. Da ist
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