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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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das Theater.«
Mein Blick folgte dem ausgestreckten Finger an der scharfen Kante der
Hofreitschule vorbei. Das Gebäude endete so unvermittelt, als wäre eine Klinge
vom Himmel gefallen und hätte es willkürlich abgeschnitten. Mein Blick ging
nach unten und fiel auf einen fensterlosen Steinkasten, der sich in eine Ecke
drückte. In Sankt Gallen wäre er vielleicht ein sehenswerter Anblick gewesen,
aber hier…
    »Recht klein, oder?«, meinte ich.
    Lothar sah mich missmutig an. »Das
größte Theater im Kaiserreich. Es hat Platz für vierzehnhundert Menschen.«
    »Es sieht gar nicht wie ein Theater
aus.« Die Vorderseite hatte keine Fenster und Türen.
    »Es war früher ein Ballhaus.«
    »Ein Ballsaal?«
    »Eine Halle zum Ballspielen. Die
Prinzen haben dort Jeu de Paume gespielt. Jetzt ist es ein Theater. Von mir aus könnte
es auch das Tor zur Hölle sein. Ich darf da ohnehin nicht rein.«
    Ich trat weiter auf den Platz. Hinter
dem Theater türmten sich höhere Gebäude auf.
    »Zufrieden?«, fragte Lothar.
»Zufrieden mit meinen Diensten?«
    Ich nickte geistesabwesend.
    »Zwei Kreuzer«, sagte er.
    »Was?«, fragte ich.
    »Mein Lohn. Er schuldet mir zwei
Kreuzer.«
    »Wofür?«
    »Für meine Dienste.«
    »Aber das war nichts. Jeder Narr hätte
den Weg gefunden.«
    »Jeder Narr außer ihm. Zwei Kreuzer.«
    »Aber …«
    »Zwei Kreuzer.« Er streckte die Hand
aus und kam näher.
    »Ich habe keinen Pfennig.«
    »Ich beiß Ihm in den Fuß.« Er
entblößte seine Zähne – gelb, aber scharf genug, um die Drohung wahrzumachen.
Ich wich zurück.
    »Nichts!«, rief ich. »Ich bin genauso
arm wie du.«
    Er musterte mich von oben bis unten,
als bemerkte er erst jetzt, wie schlecht meine Kleider saßen. Sein Blick wurde
mürrisch. »Dann will ich die Schuhe«, sagte er.
    »Nein!«
    Aber er stürzte sich auf sie und zerrte
mir den einen vom Fuß, während ich weghüpfte, dann stellte er mir ein Bein, und
obwohl er nur halb so groß war wie ich, schnappte er sich auch den zweiten. Mir
dagegen gelang es, jeden Schuh mit zwei Fingern zu packen und festzuhalten,
wobei ich nach vorn taumelte und er nach hinten zog. Das kleine Scheusal
schleifte mich über den Platz.
    Er grinste.
    Er biss mir in die Hand.
    Ich brüllte und zappelte, und dabei
fiel mir mein einziger Besitz aus der Tasche, ein dicker Brocken schwitziger
Käse, der letzte Rest meiner gestohlenen Lebensmittel.
    Lothar bekam Stielaugen. Er ließ die
Schuhe los und schnappte sich den Käse. Mit den Zähnen riss er große Happen ab.
Ich machte einen halbherzigen Versuch, mein Frühstück zu verfolgen, aber es
flitzte davon.
    Ich klopfte Boris’ Kleider ab und hob
einen abgerissenen Knopf aus dem Dreck auf. Lothar hatte einen Käsegeruch
hinterlassen, und mein Magen knurrte. Ich sah mich um und inspizierte die
Architektur: Der Michaelerplatz ist kein guter Ort für einen Einbruch, es sei
denn, man findet Gefallen an kaiserlichen Kerkern. Deshalb wandte ich mich
wieder dem wenig beeindruckenden Theater zu. Es war genauso fehl am Platze wie
eine faltige Großmutter in einem prächtigen Ballsaal.
    Trotzdem regte sich in meinem Herzen
der erste Impuls der Zuneigung.
    Ich näherte mich. Zwar gab es auf der
Vorderseite keinen Eingang, aber seitlich befand sich eine große Doppeltür aus
Eiche, das einzige Merkmal dieses Gebäudes, das dem ersten Theater eines
Kaiserreichs angemessen schien. Ich klopfte an diese beeindruckende Tür, aber
mein Pochen war kaum hörbar und sie öffnete sich nicht.
    Eine Stunde lang lief ich an den drei
Seiten des Theaters auf und ab. Es gab kaum etwas zu hören: Das Leben im
Kaiserreich spielte sich nachts ab. Gelegentlich rollte eine Kutsche über den
Michaelerplatz. Ein Maulesel mühte sich vor seinem Karren, der hoch mit Melonen
beladen war. Hinter dem Theater erblickte ich durch ein Tor den leeren
Burgplatz, aber jedes Mal, wenn ich heranschlenderte und durchschlüpfen wollte,
hob die Wache dort die Augenbrauen in die Höhe: Versuch
es nur. Ich machte kehrt.
    Eine Stunde später allerdings erlebte
ich etwas sehr Merkwürdiges. Auf der Vorderseite des Theaters gab es etwa in
Höhe meiner Hüfte eine quadratische kleine Metalltür. Sie öffnete sich
plötzlich. Zwei Arme tauchten auf. Ein Kopf folgte. Die Arme glitten zum Boden,
wo sie so taten, als wären sie Füße. Derweil kamen die Füße aus der Öffnung,
und eine Hacke schloss die Klappe so fest, wie es eine Handfläche getan hätte. Dann
richtete sich die Ansammlung von Händen und Füßen

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