Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
viel
wichtiger noch, der eine Leidenschaft fühlte, die echt und wahrhaftig war.«
Gluck sah an die Decke und breitete flehentlich die Arme aus. »Orpheus!«, rief
er. »Sing für uns! Wir möchten von der Liebe hören! Von größter Trauer und
größter Freude! Füll unsere Herzen mit deiner Musik!«
Mehrere Sekunden lang ließ Gluck die
Stille andauern, und dann wandte sich sein strenger Blick wieder der Menge zu.
»Im Oktober wird Orpheus wiedererstehen, wie keiner von Euch ihn je gehört hat.
Denn wir haben nicht nur das Libretto und die Musik, um seinen Geist zu
erwecken, wir haben auch den Sänger, um seine Stimme hörbar zu machen. Heute
Abend verbirgt er sich in Demut, aber Ihr kennt ihn alle. Meine Damen und
Herren, Euer Gastgeber, unser Orpheus, Europas größte Stimme: Gaetano
Guadagni.«
Mit einer ausladenden Handbewegung
stellte er mich der Menge vor, und ihre schockierten Gesichter gerieten in
Verzückung, als sie sich dazu zwangen, unter den Dreckschichten auf meinem
Gesicht den berühmten Gaetano Guadagni zu erkennen, wer immer das war. Sie
klatschten in die Hände, und da verstand ich in plötzlichem Erschrecken, dass
der Raum von einer Erwartung angefüllt gewesen war wie eine große Blase, die
kurz davor steht, mit einem mächtigen Plopp! zu platzen. Ich lächelte nicht, als sie klatschten,
daraufhin klatschten sie umso lauter, und ich beschloss wegzulaufen. Ich tat
zwei Schritte zurück, aber in diesem Augenblick hörte ich, dass mein Fluchtweg
durch herankommende Schritte abgeschnitten wurde. Ich drehte mich um und sah
einen Mann eintreten. Sein Anblick erklärte alles – wenigstens für mich.
Gaetano Guadagni war fünfzehn Jahre
älter als ich, aber unsere Gesichter waren alterslos. Er reichte mir nur ans
Ohr, aber wir hatten jene engelsgleiche Statur, welche die Leute glauben
machte, er sei sechs Fuß groß und ich sieben. Wie ich hatte er die vogelgleiche
Brust des Kastraten und die Anmut eines Körpers, der nicht mit männlichen
Muskeln beladen war. Zwillinge waren wir nicht, aber Brüder hätten wir sein
können. An jenem Abend wurde meine Jugend von Schmutz entstellt, und in seinem
langen Rock aus Brokat wirkte er wie ein König.
Er schien in den Raum zu schweben.
Alle waren verstummt, als sie mich gesehen hatten, als sie jetzt jedoch
Guadagni sahen – und mich neben ihm –, hörten sie auf zu atmen. Der berühmte
Kastrat erschrak nicht beim Anblick des Vagabunden in seinem Haus; kurz
bedachte er sein Publikum mit einem großzügigen, wissenden Lächeln. Dann
musterte er mich sorgfältig von Kopf bis Fuß.
»Chevalier«, sagte er auf Deutsch mit
einem starken Akzent, »habt Ihr Ersatz für mich gefunden?«
Glucks rosiges Gesicht war tiefrot
angelaufen. »Du Betrüger!«, stieß er hervor. Er schüttelte eine Faust und hielt
die andere an seine Brust, als würde sein Herz vor Scham brechen. Ich trat
weiter zurück und wäre beinahe mit dem Kastraten zusammengestoßen, dieser
jedoch wich mir mit der Behändigkeit eines Tänzers aus. Er hielt eine Hand in
die Höhe, um die Wut des Komponisten zu mildern.
»Ihr habt ihn mit mir verwechselt?«,
fragte Guadagni, als er seine Position zwischen Gluck und mir wieder einnahm.
Ich bewegte mich langsam auf die Tür zu.
»Er hat sich vor dem Haus
herumgetrieben. Er hat mich getäuscht.«
»Eine raffinierte Verkleidung«, sagte
Guadagni und schürzte die Lippen, damit die Zuhörer wussten, dass sie lachen
durften.
»Ich werfe ihn selbst hinaus«, sagte
Gluck und griff nach mir.
»Non!«, schrie Guadagni. Gluck erstarrte. Guadagni drehte sich nicht einmal um, um sich
zu vergewissern, dass der Komponist seinen Befehl befolgt hatte. Der Sänger
legte einfach nur seine Handfläche an die Brust, als wolle er seinen Puls
fühlen, und die roten Pfeilspitzen seiner bemalten Fingernägel funkelten. »Ich
lasse einen Bruder des Messers nicht im Stich«, sagte er ruhig.
Er beugte den Kopf, und seine Hand
blieb auf seinem Herzen liegen. Alle Augen im Raum drückten Bewunderung für
sein Mitgefühl aus.
»Boris!«, rief er mit seiner sanft
modulierenden Stimme. Boris hatte vor der offenen Tür gewartet und erschien.
»Er soll diesem Mann ein Bad, Kleider
und etwas zu essen geben. Ich denke, nur seine eigenen Kleider werden ihm
passen.«
Boris gab lediglich ein entsetztes
Schlucken von sich. Er würdigte mich keines Blickes, als er mich aus dem Raum
und einen Flur entlangführte. »Er warte hier«, befahl er. Zwanzig Minuten stand
ich dort wie eine
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