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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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vor. Sie drängten sich um den Türrahmen, unbemerkt
von allen im Raum. Sie reagierten nicht, als ich mich zu ihnen gesellte, denn
ihre Körper strebten nach dem Klang. Durch die Türöffnung drang mit den klaren
Noten des Cembalos das Geräusch knarrender Stühle und scharrender Füße.
    Ich musste wissen, wer das Instrument
spielte. Vermutlich wäre ich durch die Tür gestolpert und hätte – zum zweiten
Mal an diesem Abend – eine Störung verursacht, wäre nicht in diesem Augenblick
etwas erklungen, das mich noch mehr überwältigte: Gaetano Guadagni begann zu
singen.
    Che puro ciel! Che chiaro sol! Che nuova serena
luce è questa mai!
    Welche Wärme! Ich schloss die Augen,
und alle Luft strömte aus den verborgenen Winkeln meiner Lunge. Ich drückte
mich an die Diener, bis wir aneinandergepresst waren wie ein Wurf Ferkel, die
zu einer Reihe Zitzen drängen. Als Masse strebten wir noch näher zur
Türöffnung. Ich spähte um die Ecke und sah Guadagni vor dem hingerissenen
Publikum stehen, hinter ihm saß Gluck am Cembalo.
    Guadagni bewegte die Hände beim Singen,
seine langen Finger beschrieben das An- und Abschwellen seiner Stimme. In den
zarten Momenten erstarrte ich, so sehr bemühte ich mich zuzuhören, in den
kraftvollen Momenten glaubte ich unter der Macht seiner strahlenden Stimme
zusammenzubrechen. Guadagni blickte in eine Ecke, und seine Augen verrieten
mir, dass dort Eurydike stand, die bald wieder die Seine sein sollte. Finde Sie!, sagte mir die
Musik. Finde sie! Das vertrieb alle Furcht, die in den Schatten meiner Seele lauerte. Warme
Tränen strömten mir über das jetzt saubere Gesicht.
    Als Guadagni seinen letzten Ausruf – Euridice dov’è! – ausstieß,
war die Zugkraft seiner Stimme so heftig, dass nur Boris’ Kraft uns davon
abhielt, in den Ballsaal zu poltern. Die Gäste begannen zu applaudieren, die
Diener erwachten aus ihrer Trance und eilten davon. Ich dagegen spürte die
Wärme weichen, sobald Guadagni zu singen aufhörte. Die Furcht kam wieder
angeschlichen. Mit jedem Moment schwand meine Sicherheit, dass ich gewinnen
würde, was ich mir wünschte. Ich musste diese Musik noch einmal hören, musste
lernen, sie selbst zu singen, und da waren zwei Meister, die es mich lehren
konnten.
    Ich fühlte, wie Boris’ Hand auf meinem
Arm versuchte, mich von der Tür wegzuziehen, und ich spürte, dass er mir etwas
ins Ohr flüsterte, dass er fragte, ob ich wirklich ein Schwachkopf sei und ein
zweites Mal in die Gesellschaft platzen wolle. So war es. Ich widersetzte mich
seinem Ziehen.
    Aber Boris konnte keine weitere
Unterbrechung dulden, schon gar nicht durch einen Narren, der seine Kleider
trug, und deshalb zog er ruckartig an meiner Schulter. Ich wand und wehrte
mich, bis er den Halt verlor. Er fiel nach hinten und warf dabei eine Vase um.
Ich stolperte in den Ballsaal.
    Als würde ich eine Treppe
herunterfallen, polterte ich in die Gesellschaft, tränenüberströmt und in der
Kleidung eines Dienstboten. Der Applaus hörte auf. Alle starrten mich an, aber dieses
Mal war ihr Blick anders. Die Überraschung wurde nicht von Abscheu abgelöst,
sondern von Bewunderung – sie bewunderten meine Schönheit.
    Ich machte ein paar Schritte auf
Guadagni zu, und jetzt sahen alle die beiden Kastraten Seite an Seite – ich ein
jüngeres, größeres Abbild von Guadagni. Sein weiches Engelsgesicht, seine
zarten Knochen und sanften grünen Augen waren all das, was ich an mir selbst
verabscheut hatte.
    Ich rang um Worte, aber es gelang mir
lediglich, die Fäuste vor meinem Gesicht zu ballen und zu lösen, als wolle ich
ein flüchtiges magisches Staubkorn in der Luft packen.
    »Euer Orpheus ist zurückgekehrt,
Chevalier Gluck«, sagte Guadagni und lachte. Auch die Zuhörer lachten.
    Der Komponist funkelte mich vom
Cembalo aus an. Boris tauchte auf und ergriff fest meinen Arm.
    »Warte Er«, sagte Guadagni zu seinem
Diener, wobei er seine Bühne nicht verließ. »Vielleicht ist das die Gelegenheit
für uns, Chevalier, unser Publikum ein Duett aus dem dritten Akt hören zu
lassen, obwohl Mademoiselle Bianchi nicht anwesend ist.«
    »Er?«, brach es aus Gluck hervor.
»Eurydike?«
    »Kann Er Sopran singen?«, fragte er
mich.
    Ich nickte. Gluck erhob weitere Einwände,
aber ein italienischer Satz schnitt ihm das Wort ab, und das Geschnatter im
Raum bewies ganz deutlich, dass die Gäste Guadagni mit Freude zuhören würden,
selbst wenn er mit einer Ziege sang. Guadagni nahm ein paar Blätter zur Hand
und reichte

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