Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
zu einem ordentlichen,
stehenden Mann auf und eilte davon. Ich hätte ihn für einen Jungen gehalten,
denn die Erscheinung war nicht größer als der gewitzte Lothar, aber dieser
Wicht hatte einen Männerbart und einen mächtigen Haarschopf.
Sobald er außer Sichtweite war,
untersuchte ich die kleine Tür und stellte fest, dass es sich um eine ehemalige
Kohlenrutsche handelte. Ich versuchte, sie mit den Fingernägeln zu öffnen und
sie nach oben, nach unten oder zur Seite zu schieben. Aber ich hatte kein
Glück. Nachdem ich mich mehrere Minuten lang abgemüht hatte, hörte ich einen
wütenden Ruf.
»He da! Finger weg!«
Ich drehte mich um und stellte fest,
dass der bärtige kleine Mann zurückgekommen war. Er hatte etwas Nagetierhaftes
an sich. Seine Haare und sein Bart waren kastanienbraun wie auch die
Haarbüschel, die aus seinem offenen Hemd quollen. Er war dünn und muskulös.
Seine Lippen waren ständig geschürzt. Die Augen waren wie schwarze Perlen, und
sein Hinterkopf war sehr flach. Er hielt einen Laib Brot in der einen Hand, ein
Stück Wurst in der anderen. Die Wurst war so dick wie sein Arm, der Brotlaib so
rund wie sein Haarkranz.
»Das da«, sagte er und zeigte mit der
Wurst darauf, »ist die Tür der Kaiserin.« Er biss gierig in die Wurst. »Willst
du etwa deinen Kopf verlieren?«
Ich sagte, das wollte ich nicht, aber
ich müsste ins Theater gelangen. Ich erzählte ihm, ich sei Gaetano Guadagnis
neuer Schüler.
Er musterte mich von oben bis unten.
»Du hast keine Eier?«
Ich wurde rot und antwortete nicht.
»Wie du willst«, sagte er. Er
versetzte der Tür einen mächtigen Schlag und sie sprang auf. Das Brot und die
Wurst legte er auf die Rutsche. Dann beugte er sich nach unten, als wolle er
eine Münze aufheben, machte blitzschnell einen Handstand, sodass sich seine
Füße etwas oberhalb meiner Taille befanden und seine Hände auf dem Boden. Er
beugte die Knie und die Füße verschwanden in der dunklen Öffnung, wo er sie auf
eine Art Leiter stellte. Stück für Stück schob er dann seinen Torso hinein. Als
nur noch sein Kopf und seine Arme draußen waren, berührte ich seine Schultern.
»Also gut«, sagte ich. »Es ist, wie du
sagst.«
»Hat es wehgetan, als sie
abgeschnitten wurden?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Sehr.«
Seine Augen traten vor, als er in
seinem Tunnel lag wie in einem Fuchsbau. Sein Kopf schien direkt auf seine
Schultern geschraubt zu sein, einen Hals hatte er nicht. Seine Arme waren so
stramm wie Äste. »Weißt du, was ich tun würde, wenn mir jemand die Eier
abschneiden wollte?«
Ich fragte nicht nach.
»Ich würde es der Kaiserin sagen, und
sie würde ihn hängen.«
»Wieso würde die Kaiserin dich
beschützen?«, fragte ich.
»Na ja, ich arbeite für sie.«
»Wie ist sie so?«, fragte ich.
»Sie hat sechzehn Kinder. Ihre elf
Töchter hat sie alle Maria genannt, nach sich selbst.«
Ich nickte. »Hast du sie je mit
eigenen Augen gesehen?«
»Ich seh sie die ganze Zeit. Sie kommt
ins Theater.«
»Aber hast du ihr die Hand
geschüttelt?«
»Sei nicht dumm«, sagte er.
Langsam begann er tiefer in den Tunnel
zu gleiten. »Ich heiße Tasso«, sagte er, als sein Kopf zu verschwinden begann.
»Willst du Frühstück?«
Das wollte ich.
»Achte darauf, dass du mit den Füßen
zuerst reinkommst«, rief er aus seinem Loch heraus. Seine Stimme war gedämpft.
Ich überlegte einen Augenblick, wie
ich dieses akrobatische Kunststück bewerkstelligen sollte, dann gab ich auf und
kletterte mit dem Kopf voran hinein. Die Höhlung war groß genug, dass ich auf
den Ellenbogen hineinkriechen konnte, und zunächst fiel sie auch nicht sehr
steil ab, aber sobald ich vollständig in das Loch geklettert war, begann ich zu
rutschen. Bald verlor ich allen Halt. Als ich durch die Dunkelheit rutschte,
schrie ich und streckte die Hände vor mir aus. Ich prallte auf den Boden und
wurde zusammengepresst wie ein Würstchen in einem Glas. Ich sah an meinen Knien
vorbei und erblickte über mir ein trübes Licht und den Umriss des kleinen
Mannes, der traurig den Kopf schüttelte.
Da geriet ich in Panik, krümmte mich
und wimmerte: »Hilfe!«.
»Hör mit dem Zappeln auf!«, rief Tasso
von oben. Er band ein Seil um meine Fußgelenke. Dann hörte ich das Knirschen
eines Flaschenzugs, und er hievte mich aus dem Loch, wobei das Seil sich in
meine Haut grub. Schließlich purzelte ich aus der Öffnung und lag auf dem Boden
der alten Sporthalle.
Es war ein großer Raum mit einer
extrem
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