Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
die zwei Reihen von Logen und die zwei
Ränge darüber vollständig aus Holz gebaut, es gibt überhaupt keinen Stein, und
deshalb ahmen sie den hölzernen Resonanzkörper eines Instruments nach, selbst
wenn sechshundert Besucher Platz genommen haben. Der Raum ist schmal und lang –
nicht rund wie in anderen großen Opernhäusern –, und deshalb wird der Gesang
durch den Raum getragen, bis er von der sanften Kurve der Logen abprallt –
genau wie der Ball beim Jeu de Paume, den eine Prinzessin ihrer Cousine zuspielt.
Damals sah ich davon nichts, ich hörte
es nur. Aber als ich mich vorsichtig nach vorn zum Rand der Bühne bewegte, kam
Tasso mir mit einem Licht in der Hand nach. Er erklomm eingelassene Leitern und
entzündete die Reihen der Lampen in den Kulissen. Das Theater begann zu glühen.
Ein doppelter Rang verlief auf drei
Seiten des Theaters direkt unterhalb der prächtig verzierten Decke. Darunter
gab es zwei Ebenen mit kleinen Räumen. Sie hatten eine offene Wand, waren so
winzig wie Gefängniszellen und man betrat sie durch eine Tür im Hintergrund. Im
hinteren Teil des Zuschauerraums standen mehrere Reihen von Bänken ohne
Rückenlehnen, davor zwei Dutzend Reihen mit Samtstühlen.
»Wo sitzt die Kaiserin?«, fragte ich.
»Dort drüben.« Tasso zeigte mit dem
Daumen auf den größten der kleinen Räume zu meiner Linken. »Sie kann direkt aus
der Hofburg dorthin gelangen.«
»Und wer sitzt dort?«, fragte ich und
zeigte auf die Reihe von Sitzen unter mir im Parkett.
»Großmäuler«, antwortete der kleine
Mann von oben. Er befand sich auf einer Leiter, die doppelt so groß war wie
ich. »Prahlhänse. Wir nennen das den Ochsenpferch. Auf diesen Plätzen wird
lauter geredet als auf der Bühne.«
»Was ist mit den Bänken ganz oben
unter der Decke? Kann man von dort irgendetwas sehen?« Ich zeigte auf die
fernen Ränge.
»Nicht einmal die Hälfte der Bühne«,
sagte Tasso. » Le Paradis, so nennt man es, vielleicht weil es näher am Himmel
ist als an der Bühne.«
»Aber warum sperren sie Leute in
diesen kleinen Räumen ein?«, sagte ich. »Damit sie nicht reden?«
Er schnaubte. »Das sind Logen «, korrigierte er mich.
»Und die Türen sind nicht dazu da, um die Reichen einzusperren, sondern um die
Armen auszusperren. Bist du bereit?«
»Bereit wofür?«, fragte ich und drehte
mich um, als das Licht von Gold zu Rot wurde.
Plötzlich war ich in der lodernden
Hölle. Die Hölle war eine Höhle. Ewige Flammenzungen. Bizarre Steinsäulen. Ein
Tunnel, der zu einer hellen Öffnung führte, so weit weg wie ein Stern. Wie ein
Murmeltier, das aus seinem Bau lugt, ragte Tassos Kopf aus einer Versenkung.
Ich sah zu den roten Lampen hinauf. »Gefärbtes Glas«, erklärte er. »Bereit für
etwas Neues?«, fragte er. Sein Kopf war wieder verschwunden, bevor ich nicken
konnte.
Ich hörte das Trippeln seiner Schritte
und das Stöhnen der Achse unter meinen Füßen. Ganz plötzlich – so schnell, dass
ich es verpasst hätte, wenn ich geblinzelt hätte – verließen wir die düstere
Höhle und befanden uns auf idyllischen Feldern. Bäume neigten sich über eine
Quelle. Eine Wiese mit weichem Gras lud mich zum Schlafen ein. Hoffnung
erfüllte mein Herz genau wie bei Guadagnis Gesang. Eines Tages würden Amalia
und ich an einem solchen Ort zusammen sein.
Tassos Kopf erschien in einem anderen
Loch. »Siehst du?«, lautete sein Kommentar.
»Das hast alles du gemacht?«, fragte
ich und zeigte auf den Leinwandprospekt.
»Pah!«, sagte er. »Dazu braucht man
eine ganze Armee. Quaglio heimst die Lorbeeren dafür ein. Keiner spricht von
Tasso. Der zieht doch nur an den Strippen.«
»Wie ist es«, fragte ich, »wenn man
eine Oper sieht?«
»Weiß nicht«, sagte er. »Ich kann von
da unten überhaupt nichts sehen.«
»Du hast noch nie eine gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das
interessiert mich auch gar nicht.«
»Das interessiert dich auch gar
nicht!«, wiederholte ich. »Eines Tages werde ich von der Liebe für dich singen.
Dann wirst du deine Meinung ändern.«
Er blinzelte wieder. »Liebe?«, fragte
er.
»Ja«, sagte ich so stolz wie möglich.
»Liebe.«
Er grunzte. »Ich kann Besseres mit meiner
Zeit anfangen.« Dann verschwand er in seinem Loch.
VI.
Um neun kamen drei
missmutige Bühnengehilfen. Von jetzt an verließ Tasso seine Höhle nicht mehr.
Sein Kopf schoss aus einer Versenkung hervor und er schrie: »Ölt jede Furche,
als käme die Kaiserin. Durazzo wird in drei Stunden mit dem Maestro hier
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