Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
nur ein
grausamer Spaß gewesen.
Guadagni sah mir ins Gesicht,
verärgert über die Unterbrechung. »Ah!«, sagte er endlich, und sein plötzliches
Lächeln besänftigte meine Befürchtungen. »Unser Schweizer Musico!« Er nahm
meinen Arm und zog mich sanft von der Tür weg, damit er sie öffnen konnte.
»Singen? Heute?« Er schniefte. »Nein, nicht heute. Nicht morgen. Nicht nächste
Woche. Ende September vielleicht. Aber vielleicht auch erst im Oktober.« Verstohlen
zeigte er auf die Männer, die immer noch in seine Richtung starrten. »Meine
erste Lektion für dich: Gib ihnen nie alles, was sie wollen, oder sie
verschlingen dich wie ihre Knödel. Lass sie nie auf den Gedanken kommen, dass
sie dich gezähmt haben, mio fratello . Niemals.« Er zog mich sanft in das kleine Foyer, und
dann kniff er mir in den Arm. »Sobald er verschnitten ist, liegt der mutige
Jagdhund ruhig in der Ecke. Purtroppo, so geht es den meisten von uns: Vor dem Essen kitzeln
wir eine Prinzessin mit unserem Gesang, damit wir ihren Wein trinken dürfen;
nach dem Essen kitzeln wir sie mit unseren Fingern, damit wir ihr Federbett
teilen dürfen.«
Guadagni schüttelte den Kopf und hielt
mir einen Finger vors Gesicht. »Ich bin anders. Wenn eine Herzogin mich bittet,
für sie zu singen, sage ich, ich habe keine Zeit. Wenn ein Prinz mich bittet,
bin ich krank. Es ist Teil der Jagd. Und für solche, die keine Beute machen
können, ist die Jagd alles. Komm mit.«
Er führte mich zum Ausgang. Durch die
dicke Flügeltür konnte ich das Geräusch einer hungrigen Meute hören: Finger
kratzten am Holz, Frauen knurrten sich an, Stimmen riefen: »Gaetano, mio Gaetano!« Vier
kaiserliche Soldaten standen in Bereitschaft, um uns vor der Menge zu schützen.
»Erlaube ihnen, dich zu berühren«,
sagte Guadagni. »Aber erlaube ihnen nie, dich festzuhalten.« Er nickte, und die
Tür wurde geöffnet.
Die Frauen und Männer, die draußen
warteten, waren nicht die Bauern, mit denen ich auf dem Kai geschlafen hatte.
Die Frauen trugen prächtige Kleider. Gold und die schönsten Juwelen blitzten an
ihren Hälsen. Hinter der Menge stand eine Reihe von Kutschen, aus denen die
vornehmsten Damen durch Spitzenvorhänge lugten.
Guadagni trat in ihre Mitte. Die
Soldaten umringten uns und hielten die Menge gerade so weit zurück, dass
ausgestreckte Hände den großen Musico berühren konnten. Guadagni schien jede
Hand zu sehen – selbst die in seinem Rücken –, und er streifte jede einzelne.
Um einige Finger schloss er sogar für einen Augenblick seine Hand. Aber wenn
eine von den Händen versuchte, ihn zu ergreifen – ihn zu besitzen –, fand sie
keinen Halt. Andere ausgestreckte Hände hielten ein Stück Papier in der Hand,
und auf allen standen Verse der Liebe.
Finger kniffen mich.
Sie rupften mir Haare aus.
Sie rissen an meinen Kleidern, um sich
Fetzen von Boris’ Jacke an die Lippen pressen zu können, und das nur, weil ich
neben dem großen Kastraten ging. Hungrige Mäuler schienen an heraushängenden
Zungen zu ersticken, als sie nach uns griffen wie Bauern, die sich in Zeiten
der Hungersnot auf Brot stürzen. Die meisten Gesichter gehörten Frauen, aber
auch der eine oder andere Mann befand sich in der Menge, und einige von ihnen
trugen Karnevalsmasken, um ihre Gesichter zu verbergen. Ein maskierter Mann
hielt Guadagni einen Rubinring entgegen. Der Sänger küsste das Juwel und
steckte es in die Tasche. Damen kreischten, als andere sie zur Seite schoben.
Eine gierige Madame zog eine andere an den Haaren. Die Achsen von Kutschen
quietschten, als ganze Rudel von Bewunderinnen hinausstrebten.
Guadagni zeichnete eine Kutsche aus,
in deren Tür eine Frau ihm ohne jede Aufregung ein Zeichen gab, als würde sie
einen Kellner herbeirufen. Guadagni verbeugte sich und küsste ihr die Hand. Sie
schien seine Berührung nicht einmal zu spüren, sondern sah an seinem gesenkten
Kopf vorbei auf all die anderen Bewunderer, die ihr die Auszeichnung neideten.
Sie war schön – ihr Kleid war aus feiner grüner Seide, Juwelen blitzten an
ihrem Hals, ihr Gesicht hatte keinen einzigen Makel –, aber ihre weiße Haut
wirkte kalt auf mich, und ich glaubte, dass ich gefröstelt hätte, wenn sie auch
nur einen einzigen Finger auf meinen Hals gelegt hätte. Sie war nicht jung,
aber ihr Gesicht und die Stirn waren glatt und ausdruckslos, und das machte sie
alterslos.
»Werdet Ihr kommen, um mich den neuen Orpheus singen zu hören?«,
fragte Guadagni.
»Natürlich«, sagte
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