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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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niedrigen Decke. Tasso reichte gerade mit den Fingern daran, wenn er im
Stehen die Arme ausstreckte. Ich musste mich bücken, damit ich mir nicht den
Kopf stieß. Der kleine Mann wedelte mit einem Finger vor meinem Gesicht herum.
»Auf Kohlerutschen mit den Füßen zuerst«, sagte er. »Immer. Zum Glück war ich
da.«
    Er stand auf und brachte seinen
winzigen Hocker, dann gab er mir die Hälfte des Brots und etwas weniger als die
Hälfte von dem, was von der Wurst übrig war.
    »Wie pinkelst du eigentlich?«, fragte
er, sobald ich seine Gabe akzeptiert hatte.
    Ich erwiderte, ich hätte keine
Schwierigkeiten mit dem Urinieren, aber keine Lust mehr auf seine Fragen.
Trotzdem verspeiste ich hungrig, was er mir gegeben hatte, und sah mich dabei
in seiner Höhle um. Eine einzelne Kerze war die einzige Lichtquelle. Es gab
einen kleinen Ofen, in dem kein Feuer brannte, und daneben ein Kinderbett, auf
dem ordentlich gefaltet die Decken lagen. Es nahm aber nur eine winzige Ecke
des riesigen Raumes ein. Der Rest war angefüllt mit ominösen Geräten, die
Folterinstrumenten in einem Kerker glichen. Auf der Höhe von Tassos Nabel
erstreckte sich quer durch den ganzen Raum eine hölzerne Achse, die aussah wie
ein liegender Schiffsmast und in deren Mitte sich eine Winde mit einem
gezackten Rad befand. Von der Achse gingen Seile aus, die zu hölzernen Gehäusen
in den Ecken des Raumes führten und durch die Decke verschwanden. Am anderen
Ende des Raumes stand eine weitere Winde so groß wie Tasso, mit weiteren Holzblöcken
und weiteren Seilen, die in alle möglichen Richtungen führten. Es gab noch acht
solche Vorrichtungen, die wie Folterbänke verschiedener Größe aussahen, jede
mit vielen Seilen und Blöcken versehen. Das Geräusch unseres Kauens hallte in
den dunklen Ecken wider, als würden Ratten bei den Gerätschaften lauern.
    »Was soll das alles hier?«, fragte ich
Tasso, als wir zu Ende gefrühstückt hatten.
    »Sieh es dir an.« Er sprang auf und
purzelte über die Hauptachse. Ein paar Sekunden lang lief er auf den Händen, schob
geschickt einen Fuß in die Schlinge eines Seils und zog es nach unten. Als er
wieder fest auf dem Boden stand, öffnete sich über der größten der hölzernen
Folterbänke eine Falltür in der Decke. Ich erblickte ein Stück schwarzen Himmel
in der viereckigen Öffnung.
    »Setz dich her«, sagte er. Ich
kletterte über die Achse und durch das Gewirr von Seilen und setzte mich auf
die Folterbank, die in der Luft hing. Tasso eilte quer durch den Raum und zog
an einem Seil. Ich sah, wie es durch eine Reihe von Blöcken lief und sich
spannte, und schrie auf, als die Bank plötzlich in die Höhe schoss, und dann
war alles dunkel.
    Ich stieg von der Bank, stand in der
pechschwarzen Dunkelheit und wedelte blindlings mit den Händen vor meinem
Gesicht herum. Da war nichts. Ich klopfte mit dem Fuß auf den Holzboden. Das
Klopfen verhallte in der Dunkelheit. Ich hörte, dass ich in einer riesigen
Höhle war.
    Ich konnte nicht widerstehen. Ich sang
ein Arpeggio in die Dunkelheit.
    Architekten: Baut keine
Konzertsäle für die Zuhörer – damit sie es bequem haben, damit sie die Bühne
sehen können, damit sie sich auf ihren Plätzen geehrt fühlen. Solche Häuser
sollten wegen Götzenverehrung niedergebrannt werden. Die einzigen Tempel, die stehen
bleiben sollten, sind die zur Anbetung des Gesangs.
    In der Architektur des Gesangs ist Zeit von grundlegender
Bedeutung. In Tempeln, die für andere Idole gebaut wurden – Notre Dame, Sankt
Peter oder auch Staudachs Kirche – kann der Gesang in den Himmeln dieser Räume
bis zu zehn Sekunden nachhallen. Das mag den Zuhörern Furcht einflößen oder die
Liebe zu Gott und Seiner Kirche erwecken, aber in jenen zehn Sekunden altert
der Gesang wie ein schrumpelnder Apfel. Wenn dagegen in Salons oder Esszimmern
gesungen wird, entsteht das gegenteilige Problem: Der Gesang prallt so schnell
auf Wände und Teppiche und Essteller, dass er keine Zeit hat zu reifen, bevor
er stirbt.
    Jetzt betrachtet die große Halle, die
ich an diesem Punkt unserer Erzählung zum ersten Mal in meinem Leben sah. Hier
ist die Lebensspanne des Klangs so ideal aufgehoben, dass es keinen vorzeitigen,
tragischen Tod gibt, und es gibt auch kein Alter; der Klang lebt für
vollkommene drei Sekunden. Drei Sekunden blühender Jugend.
    Dieses Theater nächst der Burg ist
vielleicht der heiligste unserer Tempel. Die Geometrie des Jeu de Paume ist ideal für
den Gesang. Als Einzige ihrer Art sind

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