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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Glocken eine leise
Warnung. Meine Mutter sah auf, denn sie hörte es in ihrem Bauch. Lauft weg, sagten sie.
    Sie nahm mich in die Arme und
flüchtete die Leiter hinunter. Blitze zuckten, das Echo donnerte durch das Tal.
Ich lauschte auf das Geräusch von Schritten im Matsch, aber in der Sturzflut
hörte ich das Klatschen von tausend Stiefeln, das Schmatzen von tausend Lippen.
Im Grollen des Donners hörte ich eine Million Karl Victors fluchen. Sie trug
mich über die Wiese in unsere Hütte und versperrte die Tür. Wenn hin und wieder
Licht durch die Spalten zuckte, sah ich, dass sie einen Hammer in der Hand
hielt.
    Karl Victor kam auf der Höhe des
Sturms und hämmerte an unsere Tür. Meine Mutter schob mich in eine Ecke, und
obwohl ich versuchte, sie zu mir hinunterzuziehen, entzog sie sich und stellte
sich zwischen die klapprige Tür und mich. Die Tür hielt nur drei Fußtritte aus.
Das Holz splitterte, und eine weiße Hand quetschte sich durch die Lücke und
tastete nach dem Riegel.
    »Verdammt sollt ihr sein!«, brüllte
der Priester. Er humpelte, denn er hatte sich beim Eintreten der Tür die Zehen
verletzt. Der Matsch auf seinen Stiefeln und auf seiner Soutane leuchtete auf,
als ein Blitz zuckte.
    Meine Mutter stürzte sich auf ihn,
aber er sah sie auf sich zukommen, denn in diesem Augenblick blitzte es wieder.
Mit der einen Hand schwang sie ihren Hammer, mit der anderen zerkratzte sie ihm
das Gesicht. Ich hielt mir die Hände an die Ohren, als er sie mit einem
einzigen Rückhandschlag auf den Lehmboden warf. Jedes Mal, wenn er mit dem
Stiefel auf sie eintrat, zuckte ich zusammen und schrie auf. Jetzt schlug der
Blitz krachend in unsere Kirche ein und die Glocken begannen zu läuten. Karl
Victor hielt sich die schmerzenden Ohren zu, aber das Geläute fachte seine Wut
nur noch weiter an. Er trat sie wieder und wieder, bis sie nicht mehr vor
Schmerz zappelte. Erst dann hörte er auf. Sie bewegte sich nicht.
    Als der Sturm vorüberzog, ließ auch
der Regen nach. Die Glocken summten immer noch schwach. Meine Mutter atmete keuchend.
Karl Victor stand ganz still und lauschte und wartete auf den nächsten Blitz,
damit er mich sehen konnte. Ich kauerte in der Ecke und presste mich ganz fest
ans Holz, aber ein Schluchzen, das ich nicht zurückhalten konnte, brach aus mir
heraus in die Dunkelheit. Karl Victor machte ein paar Schritte in meine
Richtung und trat gegen die Wand, bis er mich gefunden hatte – und dann trat er
härter und schneller zu, trat so fest in meinen Bauch, dass ich glaubte, ich
würde nie wieder atmen können. Er griff mich am Hals und zog mich näher zu sich
heran.
    »Du verlogenes Balg«, sagte er. Er
roch nach rohen Zwiebeln. »Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder ein Wort
sagst.«
    Vater Karl Victor Vonderach schleifte
mich aus der Hütte. Ich schrie und streckte die Hände nach meiner Mutter aus,
die unbeweglich auf dem Boden lag und beim Ausatmen stöhnte. Im Licht eines
entfernten Blitzes sah ich ihr blutiges Gesicht. Er zerrte an meinem Hemd, bis
es zerriss, dann löste er seinen Gürtel und legte ihn mir um den Hals wie eine
Leine. »Versuch ruhig wegzulaufen«, zischte er in mein Ohr, als wollte er es
abbeißen. »Mach nur, versuch es.« Als die graue Morgendämmerung anbrach,
stiegen wir in den Wald hinab. Er riss einen Kiefernzweig ab und peitschte mich
damit, wenn ich zur Seite taumelte, wenn ich zu schnell oder zu langsam ging
oder wenn seine Wut überhandnahm. Tränen trübten meinen Blick. Ich rutschte und
stolperte und würgte an meiner Leine.
    Er führte mich zur großen Straße, die
mit Hufabdrücken übersät war, und mit meinen nackten Füßen versank ich fast bis
zu den Knien im Matsch. Karl Victor fluchte. Er sah die Straße hinauf und
hinunter, aber so früh am Morgen entdeckte er keine Pferde oder Wagen, die uns
mitnehmen konnten. Also zerrte er an den Fetzen meines Hemdes, aber damit riss
er es mir nur ab. Er ergriff meinen dünnen Arm und zog daran, bis ich das
Gefühl hatte, ich würde zerrissen, aber immer noch ließ der Schlamm mich nicht
los. Plötzlich jedoch gab es ein schmatzendes Plopp, und wir fielen hin, ich
vor ihm. Mein Gesicht wurde in den kalten Schlamm gepresst, und dann wurde ich
in die Höhe gehoben. Er schleppte mich weiter wie einen Sack Hafer, die Hände
unter meine Arme gelegt. Er rutschte aus und begrub mich unter sich, und einen
Augenblick lang war die Welt schwarz vor Schlamm. Als er mich aufhob, schnappte
ich nach Luft und griff verzweifelt

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