Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
Riese. Ich antwortete nicht – in Wirklichkeit hörte ich ihn gar nicht,
denn das Schlagen seines Herzens faszinierte mich, es schlug viel langsamer und
tiefer als das meiner Mutter. Das Herz eines Bullen.
    »Komm schon«, drängte Nicolai. »Du
kannst es mir sagen. Wer hat dich hineingeworfen?«
    Ich schloss die Augen. Mein Herzschlag
verlangsamte sich, passte sich dem gemessenen Rhythmus des Riesen an. Meine
Muskeln entspannten sich, und ohne es zu wollen, schmiegte ich mich in seine
Arme.
    »Das tut doch nichts zur Sache«, sagte
Remus. »Ich vermute, er lügt sowieso. Pass auf deine Börse auf.«
    »Remus!«
    »Du musst ihn hierlassen.« Remus
zeigte auf die mit Gras bewachsene Böschung.
    »Hier? Nackt im Gras? Wie kannst du so
etwas sagen? Und wenn mich die Mönche, die mich auf ihrer Türschwelle gefunden
haben, einfach liegengelassen hätten? Wo wärst du jetzt?«
    »Ich wäre in meiner Zelle und würde
lesen. In Frieden.«
    »Genau. Und stattdessen siehst du die
Welt.«
    »Ich will die Welt nicht sehen, und
das weißt du. Ich möchte nach Hause. Wir sind zwei Monate zu spät dran.«
    »Noch ein Tag ändert auch nichts.«
    »Setz ihn ab.«
    Nicolai kehrte Remus den Rücken zu. Er
trug mich mehrere Schritte am Ufer entlang. Ich öffnete die Augen und sah in
sein Gesicht. Sein Blick war der freundlichste, den ich je erlebt hatte. Sein
Atem war wie ein warmer Luftzug auf den Felsen. »Remus hat recht«, flüsterte
er. »Hat er immer, und deshalb mag ihn niemand. Aber ich lass dich nicht
einfach hier zurück. Zeig mir dein Zuhause und ich helfe dir, deinen Vater zu
finden.«
    Ich fuhr so heftig zusammen, dass
Nicolai mich beinahe fallen ließ. Erschreckt sah ich mich um, weil ich
befürchtete, Karl Victor würde im Gras lauern.
    »Mein Gott«, sagte Nicolai. »Das ist
es! Ist es so? Es war dein Vater! Remus«, rief Nicolai und eilte zu dem
hässlichen Mönch zurück. »Sein Vater hat ihn in den Fluss geworfen!«
    »Das kannst du nicht wissen.«
    »Er hat versucht, seinen eigenen Sohn
umzubringen. Das bedeutet, dass dieser Junge ein Waisenkind ist. Genau wie
ich.«
    Remus schlug die Hände vors Gesicht.
»Nicolai, du bist kein Waisenkind mehr – schon seit vierzig Jahren. Du bist
Mönch. Und Mönche können keine Kinder annehmen.«
    Nicolai dachte darüber nach. Sein Bart
sträubte sich, als er lächelte. »Er kann Novize werden.«
    »Staudach wird ihn nicht nehmen.«
    »Ich spreche mit ihm.« Nicolai nickte
zuversichtlich. »Moses’ eigener Vater hat versucht, ihn umzubringen.«
    »Nicolai«, sagte Remus so ruhig, als
würde er einen ganz einfachen Tatbestand erklären. »Du kannst dieses Kind nicht
mitnehmen.«
    »Remus, er trieb im Fluss und war am
Untergehen. Er wäre ertrunken.«
    »Und du hast ihn gerettet. Aber ihn
mitzunehmen ist eine zu große Verantwortung.«
    Nicolai wiegte mich in seinen Armen,
und ich sah nach oben auf den Heiligenschein aus Locken, hinter dem sich der
Himmel erstreckte. Sein Finger war so dick wie ein Glockenstrang, und damit
strich er mir über die Wange. »Willst du mit uns kommen?«, fragte er.
    Wie sollte ich ermessen können, was er
mir anbot? Soweit ich wusste, endete die Welt bei jenen fernen Gipfeln, und
jedes Dorf hatte seinen Karl Victor. Wenn jemand mir erzählt hätte, es gäbe nur
tausend Menschen auf der Welt, hätte ich gedacht: Mein
Gott! So viele! Aber in diesem Gesicht
über mir drückte sich so viel Hoffnung aus. Sag ja, sagten seine Augen. Sag,
dass du mich brauchst. Ich lasse dich nicht im Stich .
    Ich wollte nach Hause zu meiner
Mutter.
    »Nicolai, hör zu, du hast ein Gelübde
abgelegt …«
    »Ich kann ein neues ablegen.«
    »So geht das nicht. Ein Gelübde ist
für …«
    »Ich gelobe …«
    »Nicolai, nicht. Du kannst ihn
mitnehmen, bis wir einen sicheren Platz für ihn gefunden haben, aber du darfst
nicht …«
    Nicolai sah mir in die Augen. Solche
Freundlichkeit. Aber wo war meine Mutter? Lag sie immer noch regungslos auf dem
Boden?
    »Ich gelobe«, sagte er, »dass ich dich
beschützen werde, was immer auch passiert.«
    Remus stöhnte. Er begann zu sprechen,
aber Nicolai konnte ihn nicht hören, denn plötzlich begannen die Glocken von
Nebelmatt zu läuten, als hätte meine Mutter meine Sehnsucht gespürt. Nicolai
und Remus zuckten zusammen, als sie von dem Läuten durchgeschüttelt wurden.
Remus krümmte die Schultern und steckte seine schmutzigen Finger in seine
schmutzigen Ohren. Nicolai bedeckte eine Seite meines Kopfes mit seiner
riesigen Hand

Weitere Kostenlose Bücher