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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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nach meiner Nase.
    Auf diese Weise kämpften wir uns voran,
stundenlang, wie es mir schien, bis wir endlich eine Holzbrücke erreichten, die
über die Reuss führte, und er mich auf den schlammbespritzten Boden fallen
ließ. Ich schnappte nach Luft, lehnte mich ans Geländer, und er keuchte und
hustete und spuckte mir kleine Schlammklumpen ins Gesicht. Die Reuss führte
Hochwasser und floss mit der Wut des Frühlingsregens und der Schneeschmelze
unter der Brücke dahin, und ich versuchte, in ihre Geräusche zu fliehen: Ich
zerlegte die einzelnen Strömungen, hörte das Grollen des aufgewühlten Wassers,
hörte Steine, die von der Flut flussabwärts getragen wurden. Aber meine Ohren
zwangen mich zur Rückkehr, denn Karl Victor rieb knirschend seine Hände, und es
klang wie ein gespanntes Seil kurz vor dem Zerreißen. Mit den Füßen stampfte er
auf den Boden. Mit den Zähnen kaute er an seiner Unterlippe. Er knurrte.
    Durch Schlamm und Tränen sah ich auf
und in sein Gesicht, das von den Fingernägeln meiner Mutter zerkratzt war. Blut
floss aus seiner zerbissenen Lippe. Seine Soutane war so durchweicht, dass sie
an seinen Beinen klebte. Er griff sich mit den Händen in die Haare, als wolle
er sie ausreißen, und dann knurrte er den Wind an.
    Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte
hören können, was in diesem Augenblick in Karl Victors Kopf vorging. Was plante
er eigentlich? Ich bin so barmherzig zu glauben, dass er etwas im Sinn hatte:
Vielleicht wollte er mich nach Luzern bringen und in einem Waisenhaus abgeben
oder vielleicht wollte er mich an einen Bauern im Kanton Schwyz verkaufen. Der
Schlamm jedoch – dieser knietiefe Matsch, der rülpste und saugte und spritzte –
machte aus der Brücke eine Insel. Mich nach Nebelmatt zurückzubringen, war unmöglich,
denn dort würde ich seine schändlichen Geheimnisse ausplaudern. Aber wenn er
mich auch nur noch hundert Schritt weiterschleppte, konnte das unser beider Tod
bedeuten.
    Sein Knurren wurde zu einem Schrei,
und er traktierte das Geländer der Brücke wieder und wieder mit Fußtritten, wie
er meine Mutter traktiert hatte, aber es war stabil und zerbrach nicht unter
seinem Stiefel. Er sah mich mit roten Augen an, und als er sprach, spuckte er
mir Blut ins Gesicht.
    »Du warst doch angeblich taub!«
    In diesem Augenblick hätte ich
versprochen, niemals wieder ein Wort zu sagen. Ich hätte angeboten, mir selbst
die Zunge abzubeißen – wenn er mich nur zu meiner Mutter zurückgehen ließe. Ich
würde unseren Glockenturm nie wieder verlassen, selbst wenn der Blitzschlag
drohte.
    Er beugte sich über mich und sein
Gesicht kam mir so nahe, dass seine saugenden, schmatzenden Lippen genauso laut
wie der Fluss waren. Er hob mich in die Höhe und presste mich mit seiner Hüfte
an das Geländer. Dann umklammerte er meinen Kopf mit beiden Händen.
    »Wenn Gott nicht dafür sorgt, dass du
taub bist, muss ich es eben tun.«
    Zwei Finger bohrten sich wie Stacheln
in meine Ohren. Ich heulte und schlug um mich, aber die Finger drangen um so
fester und so tief hinein, dass es schien, als müssten sie sich in meinem Kopf
treffen. Das war also der Schmerz, den andere fühlten, wenn sie die Glocken
meiner Mutter hörten! Ich sah nur sein Gesicht; seine Grimasse wechselte von
weiß zu rot. Noch durchdringender wurde sein Bohren, und ich schrie.
    Mit meinen kleinen Händen zog ich an
seinen Händen, aber ich konnte sie nicht von der Stelle bewegen.
    »Vater!«, brüllte ich.
    Er ließ mich fallen, als wäre ich ein
brennendes Stück Kohle.
    Ich lag auf dem Boden und hielt mir
den Kopf, wartete auf den nächsten Angriff, aber der kam nicht. Wie erstarrt
stand er über mir, die Augen erschreckt aufgerissen.
    Ich hatte keine Anschuldigung machen
wollen. In Nebelmatt nannte man ihn »Vater«. Mehr hatte ich nicht gemeint.
    »Ich bin nicht dein Vater«, flüsterte
er. Aber ich hörte nicht, was er sagte. Ich hörte das Schwanken seiner Stimme,
die Beklemmung in seinen Lungen, das Zittern seiner Hände. Und ich hörte, dass
dieses einzige Wort von mir ihn verbrannt hatte wie Feuer, und dass es wahr
war.
    Vater? Ich kannte das Wort: Väter
hielten ihre Söhne in den Armen, wenn sie verletzt waren, und peitschten sie,
wenn sie ungezogen gewesen waren. Väter ließen ihre Söhne neben sich herlaufen,
wenn sie die Kühe auf die Weide hinauftrieben. Ich kannte es gut, aber ich
hatte nie gedacht, dass es ein Wort für mich wäre.
    »Ich bin nicht dein Vater«, sagte er
noch einmal.
    Mein Vater

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