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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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wenigen
Tagen war ich von einem Bauerntölpel, der weit unter ihm stand, zu einem
zweiten Herrn weit über ihm aufgestiegen. Kameraden
können wir niemals sein, sagte jeder
seiner distanzierten Blicke.
    Guadagnis Gesang berührte mich immer
noch tief, bald aber bewegten mich die Arien in der Form, die sie hätten
annehmen sollen – die sie angenommen hätten –, wenn ich sie gesungen hätte.
Mein geübtes Ohr erkannte Guadagnis Schwächen, die in der Tat zahlreich waren,
und auf diese Weise war das, was ich schließlich hörte, eine unklare Verbindung
seines Gesangs mit dem Gesang meiner Vorstellung. Ich hätte sie selbst
gesungen, wäre vielleicht sogar so unvorsichtig gewesen, Guadagni zu beweisen,
dass ich singen konnte, aber obwohl meine Ohren die Klänge aufnahmen, war die
Zeit noch nicht reif, sie auf meine Lippen zu übertragen. Ich musste
Italienisch lernen, musste es lesen können, sodass ich seine Formen und
Bedeutungen erfasste. Und das enthielt mein einziger Lehrer mir vor. Ich musste
also einen anderen finden.
    Genau das tat ich eines Tages: Es war
ein Wolf, der in einer Ecke schmollte.

VII.
    Ich spazierte durch die
Innere Stadt und verlief mich im Labyrinth der Gassen. Ich hatte bis Mittag
beim Palais Riecher auf der Lauer gelegen und dann beschlossen, einen
direkteren Weg nach Hause zu nehmen. Inzwischen hatte ich mich so verirrt, dass
ich gewiss meinen Maestro verpasst hatte, der mit einer Prinzessin und ihrer
Schwester zum Essen verabredet war. Ich hoffte, auf einen vertrauten
Orientierungspunkt zu stoßen oder sogar auf den gerissenen Lothar, aber die
Gasse war leer – oder fast leer, denn ein einzelner Mann wartete mit einem Buch
vor der Nase in einem Torbogen. Außer den haarigen Händen war nichts von ihm zu
erkennen. Er trug Kleidung, die respektabel gewesen wäre, aber sie war
zerknittert und hing um seine mageren Hüften wie ein Sack, den man an der
Taille zugebunden hatte. Ich achtete nicht auf ihn, bis ich an ihm vorbeikam
und er sich hustend räusperte und die Luft einschlürfte, als wäre sie flüssig.
    Dieses Geräusch!
    Es erfüllte mich mit derselben Freude
wie die Sonne, die an einem kalten Wintertag durch die Wolken bricht. Ich
sprang auf ihn zu und riss ihm das Buch vom Gesicht. Er hielt mich für einen
Rüpel und versuchte, mich abzuwehren. Aber ich hielt ihn fest.
    »Remus!«, rief ich. »Du bist es
wirklich!«
    Es war mein Freund! Dieser mürrische
Gesichtsausdruck! Das zerzauste Haar! Die krumme Nase! Noch einmal rief ich
voller Freude seinen Namen aus. Dieser Name, mit dem ihn nur zwei Personen je
angeredet hatten, wirkte wie ein Zauberspruch. Der mürrische Ausdruck
verschwand. Das Gesicht, das nie glücklich oder traurig war, war plötzlich
beides gleichzeitig, und er drückte es in meinen Kragen. Ich schluchzte in sein
wirres Haar, als hätte ich einen ganzen See, um meine Tränen daraus zu
schöpfen.
    »Moses! Du bist hier!«
    »Und du auch!«, sagte ich. »In Wien!«
    »In Melk wollten sie uns nicht nehmen.
Staudach muss ihnen geschrieben haben. Wir haben dir Nachrichten geschickt,
aber ich fürchte, sie wurden abgefangen und sind nie angekommen.«
    »Das stimmt«, sagte ich.
    »Gott sei Dank, dass ich dich gefunden
habe! Die Welt ist so riesig!«
    »Ich muss dir so viel erzählen!«,
sagte ich.
    »Lass mal deine Kleider sehen«, rief
er aus und schob mich weg, um meinen Brokatrock in Augenschein zu nehmen, und
dann umarmte er mich wieder fest. Er war älter geworden – bei seinem grauen
Haar bestand daran kein Zweifel –, aber er hatte gewiss noch nie so gut
ausgesehen. Endlich hatte sein Gesicht Farbe bekommen.
    »Und Nicolai! Wo ist Nicolai?« In der
Erwartung, er würde gleich aus einer Tür springen und ein fröhliches Lied
singen, sah ich mich hoffnungsvoll um.
    Remus Lächeln verdüsterte sich. Er
nickte ernst. »Er ist hier«, sagte er.
    Sein Ton beunruhigte mich. »Remus, was
ist los?«
    Remus sah die Straße hinauf und
hinunter, und der alte Remus, der mir nicht in die Augen sah, war wieder da.
»Nicolai hat sich sehr verändert. Er ist krank.«
    »Krank?«, fragte ich, unfähig zu
glauben, dass den Bären eine Krankheit befallen konnte. »Aber er wird doch bald
wieder gesund?«
    Remus schüttelte den Kopf und sah weg.
Er schwieg.
    »Sag es mir, Remus. Ich bin sein
Freund.«
    Remus nickte. »Ich verspreche, dir
alles zu erzählen. Aber es ist besser, wenn du ihn zuerst siehst. Bilde dir
selbst ein Urteil. Dich zu sehen, wird ihn bestimmt

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