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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Kastrat.« Sein Blick schien mich herauszufordern.
Boris öffnete die Wagentür. »Ich bin ein Musico.«
    »Wenn Ihr mich Italienisch lehren
würdet, könnte ich …«
    Er hob einen Finger in die Höhe, um
mir das Wort abzuschneiden. »Ich werde dich lehren, was du wissen musst«, sagte
er und ließ mich ihm in sein Haus folgen.
    Ich war sein Schatten. Genau wie
er nie ohne seine schönen Kleider, seine prächtige Kutsche und das süffisante
Lächeln auf den Lippen ausging, ging er jetzt nirgendwohin, ohne dass ich
hinterhertrabte wie einer dieser flauschigen chiens, die französische Damen an einer Leine hinter sich
herzerren.
    Zwei Wochen lang gab er keine
Vorstellung und lehrte mich nur, dass er das größte Geschöpf auf Erden sei. Ich
schlief in seinem Haus, dinierte mit ihm, begleitete ihn durch Wien, wenn es
ihm passte; wenn seine Jagd Diskretion erforderte, schickte er mich weg. Ich
trug ihm den Rock nach, wenn es warm war, und öffnete ihm die Türen, wenn kein
Portier da war. Ich betrat Soireen an seiner Seite, bis uns die Menge der
Bewunderer trennte.
    Nachdem ich bei unserer ersten Soiree
in eine leere Ecke geschoben worden war, tauchte Guadagni plötzlich mit zwei
Schwestern am Arm bei mir auf – den einfältigen Töchtern irgendeines Herzogs.
Sie ließen die Zwillingsstupsnasen hängen, als er sie an mich weiterreichte,
aber kaum war er wieder in der Menge verschwunden, wandten sie sich schon mit
einem doppelten Lächeln an mich, das sagte: Wir
gehören dir.
    Comment t’appelles-tu?, fragte die eine, die nur eine Spur weniger
unansehnlich war als ihre Schwester.
    Ich blinzelte sie an und befahl meinen
Ohren, diese einfache Frage zu verstehen, weil sie vielleicht der Schlüssel für
mein Entkommen war. Aber es hatte keinen Zweck.
    »Ach«, bot ich an. »Hmm.« Die beiden
Schwestern kicherten und schmiegten sich umso heftiger an meine Brust. Ich
versuchte einen Rückzug, aber sie hatten mich an die Wand gedrückt. Ich
entdeckte meinen Maestro in der Menge. Er zwinkerte mir zu.
    Ich schloss die Augen und stellte mir
vor, ich wäre eine Glocke, die still in einer Ecke hängt. Als ich die Augen
wieder öffnete, war die Hälfte der Gäste gegangen und die beiden Schwestern
hatten eine willigere Beute gefunden.
    Keine einzige Sekunde hatte ich
mein Ziel aus den Augen verloren. Durch meinen neuen Lehrer würde ich Zutritt
zum Gefängnis meiner Amalia erhalten, aber drei Wochen des Wartens schienen
eine Ewigkeit zu sein, sodass ich die Idee, auf andere Weise an mein Ziel zu
kommen, keineswegs aufgab. Wenn Guadagni am Morgen noch schlief oder wenn er
mich wegschickte, trieb ich mich in der Nähe des Palais Riecher herum und
hoffte, ich würde sie in einer der Kutschen erblicken, die durch das Tor kamen.
Ich malte mir aus, dass ich neben der Kutsche herrennen und eine geheime
Botschaft singen würde. »Halt!«, würde sie dem Kutscher zurufen. Sie würde
aussteigen, wir würden uns gleich auf der Straße in die Arme fallen, und alle
anderen armen Teufel in Wien würden applaudieren, weil wir uns wiedergefunden
hatten.
    Aber ach, es sollte nicht sein. Die
Vorhänge der Kutsche waren immer geschlossen, und kein strahlendes blaues Auge
spähte hinaus. Manchmal schlich ich mich des Nachts zum Palais und untersuchte
die Fassade, um eine bislang unentdeckte Möglichkeit zu finden, mich ins Haus
zu stehlen. Aber ich stellte fest, dass es besser gesichert war als alle Häuser
in Sankt Gallen. Eines Nachts versuchte ich sogar, an der Hauswand
hochzuklettern, um festzustellen, ob eines der oberen Fenster geöffnet werden
könnte. Als ich zwei Körperlängen vom Boden entfernt war, versagten meine
Finger, und ich rutschte ab. Am Morgen war mein Fußknöchel blau und
geschwollen.
    Jeden Tag sang mein Maestro um die
Mittagszeit zwei gesegnete Stunden lang. Meistens übte er Glucks neuen Orpheus , wiederholte die
Arien und Rezitative immer von Neuem, bis er jene Präzision erlangte, für die
er berühmt war. Manchmal wählte er andere Arien, oft von Händel, die geschärft
bleiben sollten, damit sie zur Verfügung standen, wenn er eine Waffe für die
Jagd benötigte. Ich lag dann auf meinem Diwan und lauschte seiner
außergewöhnlichen Phrasierung, die das Haus durchdrang. Ich lernte die Musik
auswendig, während der ergebene Boris mir Tee und Kuchen brachte. »Jawohl, der
Herr«, sagte er, wenn ich um eine weitere Tasse bat. »Nein, der Herr«, sagte
er, wenn ich ihn bat, er solle sich setzen und mit mir Tee trinken. In

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