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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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geschmiedet. Ich
brauchte nur noch auf die Premiere zu warten.

XII.
    Ich lernte die Göttin der
Liebe an einem Nachmittag kennen, als Tasso und Gluck versuchten, sie das
Fliegen zu lehren. Als mein Lehrer und ich das Theater betraten, stand die
rundliche Lucia Clavarau mit Miniaturflügeln, die an ihrem Rücken befestigt
waren, in der Mitte der Bühne. »Mein Gott«, murmelte Guadagni. »Wissen sie denn
nicht, dass eine Wildsau mit Flügeln immer noch eine Wildsau ist?«
    »Aber du bist so klein«, sagte sie zu
Tasso, als er das Gurtzeug befestigt hatte. »Du wirst mich fal …«
    Sie stieß einen schrillen Sopranschrei
aus, als Tasso das Gewicht freisetzte, das sie in den Himmel hob. Sie schwang
über die Bühne.
    »Nicht zappeln!«, rief Tasso.
    »Lass mich runter!«, schrie sie.
    Tasso zog an einer anderen Leine, und
in einem großen Bogen kam sie kreischend und mit den Armen wedelnd über die
Bühne zurück.
    »Lass sie runter«, sagte Gluck zu
Tasso. »Sie sieht wie ein Insekt aus und nicht wie Amor. Wir stellen sie auf
einen Sockel.«
    Orpheus’ junge Frau, Marianna Bianchi,
war schmal und blass und hatte eine großartige Stimme, die mir schnell die
Tränen in die Augen steigen ließ. Ich hatte nur selten eine Frau singen hören,
und plötzlich war ich mir sicher, dass meine Mutter so gesungen hätte. Während
der Proben am Nachmittag saß ich bei Tasso oder wartete in den Kulissen auf
meinen Lehrer. Mein Italienisch war inzwischen recht gut, und Calzabigis
Libretto war relativ einfach, sodass ich nach der ersten Probenwoche nicht nur
die Geschichte verstand, sondern leise mit Guadagni mitsingen konnte. Ich
bemerkte sowohl die Schönheit als auch die Unzulänglichkeiten seiner Stimme.
    »Maestro«, sagte ich eines Abends sehr
vorsichtig, als wir in der Kutsche zu seinem Haus zurückführen, »es ist eine solche
Ehre, Euch singen zu hören.«
    Er verbeugte sich knapp auf seinem
Sitz.
    »Aber ist es vielleicht möglich, dass
ich Euch eine Frage stelle?«
    Er zog die Augenbrauen in die Höhe.
    »Die beiden ersten Akte sind so
erlesen, glaubt Ihr nicht, dass der dritte Akt ein wenig zu … zu …«
    »Zu was?«, schnappte er.
    Ich suchte nach dem richtigen Wort, um
das Phänomen zu beschreiben. »Zu … zu … laut ist?«
    »Zu laut? « Er drehte sich um, und als ich das wilde Glitzern in
seinen Augen sah, drückte ich mich an die Tür.
    »Nicht zu laut, um genau zu sein«, begann ich meinen Rückzieher,
»aber … aber nur laut . Ihr habt die schönste Stimme, die ich je gehört habe, Maestro, aber … nun
… wenn Ihr Euch an gewissen Stellen zurückhalten würdet, wäre Euer begrenztes
Volumen an anderen Stellen überzeugender.«
    »Begrenztes Volumen?« Guadagni sah
mich an, als sähe er eine ekelhafte Made aus meiner Nase kriechen.
    »Nun, sehr stattlich. Aber …«
    Er beugte sich vor. Ich merkte, dass
er aus seinem Innersten heraus zitterte. »Wie kannst du es wagen! Du! «, schrie er. »Du weißt
nichts! Nichts!«
    »Es tut mir sehr leid.« Ich wedelte in
der Hoffnung, seine Attacke abwenden zu können, mit den Händen herum. »Ich
hätte nicht …«
    Seine Wut ließ ihn in die Höhe
schnellen, sodass er drohend über mir stand. »Du weißt weniger über die Oper
als diese Schwachköpfe von Prinzen auf den Abendgesellschaften. Du bist ein
kleiner Chorsänger, der verschnitten wurde, weil irgendjemand ein perverses
Vergnügen daran fand. Ein entflohener Eunuch, der als Haustier gehalten wurde.«
Er nahm mehrere tiefe Atemzüge. Als er wieder sprach, zitterte seine Samtstimme
vor Wut. »Sag mir niemals« – sein Gesicht kam mir so nahe, dass ich glaubte, er
würde mich beißen – »niemals wieder, was du denkst.«
    Das tat ich nicht, aber später
übernahmen es viele andere. Er ging nach London zurück, und obwohl er dort
zunächst wie ein siegreich heimkehrender Sohn begrüßt wurde, entsprach seine
Stimme nicht dem, was man sich erträumt hatte. Er floh nach Padua und geriet in
Vergessenheit. Dort starb er als armer Mann, nachdem er sein Vermögen für die
armen kastrierten Teufel ausgegeben hatte, die sich als seine Schüler um ihn
scharten. In seinen letzten Jahren war es seine einzige Freude, regelmäßig
Glucks große Oper als Ein-Mann-Puppentheater aufzuführen. Sie galt als seine
größte Leistung.
    Du hast sicherlich viel über die
Premiere dieser Oper gelesen. In nur wenigen Wochen erfuhr ganz Europa von
Guadagnis und Glucks Erfolg. Ich muss dich allerdings enttäuschen: Nichts davon
ist

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