Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
sie war immer
noch so fern. Schnell! Schnell! Wir mussten dieser grausamen Höhle entkommen und ans
Licht zurückkehren, damit ich endlich ihr Gesicht sehen konnte. Sonst würde
dieser Ort uns beide töten. Aber der Kummer hatte sie geschwächt. Sie fiel auf
die Knie und flehte mich an, ihr in die Augen zu sehen.
Meine Sinne waren zum Zerreißen
gespannt. Ich würde verrückt werden, wenn diese Qual nicht endete. Meine Stimme
wurde von Angst geschüttelt. Ich spürte, wie die Sehnen an meinem Hals
hervortraten.
Ich öffnete die Augen und sah das
Wohnzimmer. Remus hatte sich zu Tasso gebeugt und flüsterte ihm den Text ins
Ohr. Nicolais Augen waren weit aufgerissen und auf mein Gesicht gerichtet. Ich
hatte keine Wahl! Ich konnte Eurydikes Schmerz nicht ertragen!
Und so brach ich das Versprechen. Ich
sah in ihre Augen, und für einen einzigen Moment wusste Eurydike, dass ich sie
liebte. Und dann geschah Zeus’ Wille: Sie starb.
Tasso starrte auf meine Füße, wo er
Eurydike sah, die tot auf dem Boden lag. Erschrocken blickte er in mein
Gesicht, seine Knopfaugen waren durch seine Tränen zu glänzenden Edelsteinen
geworden. Die Stadt vor dem Fenster war still, aber ich wurde mir jetzt der
vielen Atemzüge bewusst. Ich wusste, dass viele Augen in der Hoffnung zum
Fenster hinaufspähten, der Gesang sei noch nicht vorbei.
In meinem Kopf setzten Glucks
Streicher wieder ein – die ersten Noten von Che farò
senza Euridice?. Ich hatte noch nie eine
solche Traurigkeit empfunden.
Ich läutete wie eine aus Eis gegossene
Glocke.
Tasso beugte sich vor; Remus’
Übersetzung war ihm inzwischen gleichgültig. Nicolai hielt sich die Hände vors
Gesicht und weinte. Remus saß aufrecht und hatte die Augen geschlossen. Auf der
Straße wurde viel geschluchzt. Kinder klammerten sich an ihre Mütter. In ihren
Fenstern beugten sich Huren über den Sims und mühten sich, mein Gesicht zu
sehen, denn in diesem Lied lag Hoffnung. Wenn Orpheus in seinem Kummer zur
Hoffnung fähig war, so waren sie es auch. Und als ich sang, ballten sie die
Fäuste und weinten.
Als ich fertig war, lehnte ich mich an
die Wand.
»Ist es vorbei?«, flüsterte Tasso.
Ich schüttelte den Kopf, aber ich
konnte nicht sprechen. Natürlich ist es nicht vorbei, hätte ich gesagt. Aber es war zu viel. Ich dachte
daran, dass meine eigene Eurydike nicht weit entfernt schlief. Ich konnte nicht
atmen. Mein Kopf begann sich zu drehen. Und dann lag ich auf den Knien. Das
Letzte, was ich sah, war Nicolai: die Augen geschlossen, ein Riese mit einem
seligen Lächeln auf dem Gesicht, als hätte er einen Engel erblickt.
Dann ließ ich mich in die Dunkelheit
fallen.
Tasso rettete mich. Er sprang von
Remus’ Sessel und fing mich auf, bevor meine Schläfe gegen den Kamin prallte.
Er legte meinen Kopf sanft in seinen Schoß und streichelte mir die Stirn.
Als ich mich langsam erholte, hörte
ich, wie er Remus fragte: »War es das? Ist es vorbei?«
»Ja«, sagte Remus. »Orpheus hat
Eurydike wieder verloren und diesmal für immer. Nach Vergil trauert er viele
Monate und singt so traurige Klagen, dass all die Tiere des Waldes kommen, um
ihm zuzuhören. Doch das erzürnt die kikonischen Frauen, die nicht an solche
Liebe glauben. Sie reißen ihn in Stücke. Als sein abgetrennter Kopf im Fluss
Hebros treibt, ruft er Eurydikes Namen.«
Tasso seufzte. »Aber wie kann das
sein?«, fragte er. »Er liebte sie doch so sehr.«
»Das ist gleichgültig«, sagte Remus.
»Die Götter sind nicht besonders gnädig.«
»Das stimmt nicht!«, stieß ich hervor.
»Seine Liebe ist stärker!«
Tasso hielt mich fest, weil er Angst
hatte, ich würde noch einmal in Ohnmacht fallen, aber er lächelte Remus
strahlend an. »Ich wusste doch, dass es nicht so enden kann!«
Remus zuckte die Achseln. »Aber es
endet so«, sagte er. »Natürlich gibt es andere Versionen. Bei Ovid wird er von
thrakischen Frauen zerstückelt.«
»Nein«, sagte ich. Ich schüttelte
Tassos Hand ab. »Ich weiß es genau. Orpheus versucht sich zu töten, aber Amor
greift ein. Orpheus’ Klage hat ihn gerührt, und Amor erweckt Eurydike wieder
zum Leben und bringt die beiden in den Tempel der Liebe. Und dort endet es. Mit
einem Ballett!«
Tassos Augen waren glasig. »Ja, der
Tempel!«, sagte er. »Der letzte Prospekt! Es stimmt. Ich habe ihn gesehen!«
Wieder zuckte Remus die Achseln. »Dann
haben Calzabigi und Gluck die Geschichte verändert«, sagte er.
»Und was ist daran so schlimm?«,
fragte Tasso. Er schnaufte und
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