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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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dieser frühen Morgenstunde wurde
der Himmel bereits grau. Die schmutzigen Straßen waren so still, wie ich es
noch nie erlebt hatte. Keine Damen lockten in den Fenstern der
heruntergekommenen Gasthäuser. In seinem Kaffeehaus schlief Herr Kost auf einer
Bank. Ich weckte ihn nicht auf, sondern ging geräuschlos die Treppe hinauf.
    Ein Bewohner von Spittelberg war wach:
Nicolai saß in seinem Sessel vor dem offenen Fenster. Ich setzte mich neben
ihn, und wir blickten zusammen die Burggasse hinunter in Richtung Stadt. Die
vereinzelt übrig gebliebenen Kopfsteine ragten aus der Erde hervor wie krumme
Zähne. Nur in wenigen Wirtshäusern brannten noch Lampen, und dort man sah den
Schmutz, der die Fensterscheiben bedeckte wie Frost.
    »Ich sitze gerne hier und atme die
Nachtluft ein«, sagte Nicolai, »bevor die Sonne aufgeht und meinen Augen
wehtut. In ein paar Minuten ist es so weit. Dann schließe ich die Vorhänge für
den Tag.«
    Ich sagte nichts, und er forschte
nach. »War es eine lange Nacht oder bist du früh aufgestanden?«
    »Eine lange Nacht.«
    »Guadagni hat dich zu einer
Gesellschaft mitgenommen?«
    Ich nickte. Zwei Hunde kamen aus dem
Schatten angeschlichen und wühlten in den Haufen von verfaulendem Abfall auf
der Straße. Wir saßen noch eine Weile schweigend da, bevor ich den Mut
aufbrachte zu sprechen.
    »Nicolai, erinnerst du dich daran, wie
du mir erzählt hast, dass die Liebe zwei Hälften zu einem Ganzen werden lässt?«
    Nicolai zuckte die Achseln. Das sanfte
Licht der aufgehenden Sonne ließ sein Knollengesicht noch weicher wirken, wie
aus warmem Wachs geformt. »Habe ich das gesagt? Es könnte sein. Über die Jahre
habe ich bestimmt Dinge gesagt, die noch törichter waren«, teilte er dem
offenen Fenster mit. »Auf jeden Fall wäre alles einfach, wenn es wahr wäre. Die
Liebe als Zusammentreffen von Schloss und Schlüssel! Nein, Moses. Wer so etwas
sagt, ist ein Narr. Ich habe meine andere Hälfte vor Jahrzehnten gefunden, und
du siehst ja, wie ich ihn verletzt habe. Ich hätte ihn in Frieden lassen
sollen.«
    In einem der Wirtshäuser öffnete sich
eine Tür, und jemand torkelte in Richtung Stadt. Der graue Himmel hatte jetzt
rosige Streifen, sie schimmerten wie Ölglanz auf einer Pfütze.
    »Nicolai«, sagte ich. »Ich bin
verliebt.«
    Er sah mich an, und seine trüben Augen
blinzelten bei dem Versuch, in meinem Gesicht zu lesen. Da war es, das
Erstaunen, vor dem ich mich so gefürchtet hatte! Von mir hatte er ein solches
Geständnis nicht erwartet. Aber sein Gesichtsausdruck verletzte mich nicht, wie
ich vorhergesehen hatte, denn in seine Überraschung mischte sich die reinste
Freude.
    »Verliebt!«, sagte er.
    Und da erzählte ich ihm alles: von dem
vornehmen Mädchen und ihrer sterbenden Mutter, von der jungen Frau, die sich in
die Abtei gestohlen hatte, von unseren Nächten unter dem Dach. Ich erzählte
ihm, dass sie mein Gesicht nicht kannte, nur meine Stimme, und dass sie mich
Orpheus nannte. Ich erzählte ihm auch, was für ein Narr ich gewesen war, weil
ich mein Glück nicht beim Schopf gepackt hatte, und dass sie dann den großen
Anton Riecher aus Wien geheiratet hatte. Dass sie bald ein Kind bekommen würde.
Ich erzählte ihm, dass sie glaubte, ich wäre tot, dass sie mich aber immer noch
liebte.
    »Aber jetzt kannst du dein Glück noch
einmal versuchen!«, sagte er, und seine Hoffnung war so strahlend, dass sie
mich ansteckte. »Orpheus kann seine Eurydike retten!«
    Verschämt erzählte ich ihm von meinem
Misserfolg bei der Abendgesellschaft und von meiner Angst, dieses Gefängnis von
einem Haus, in dem sie eingesperrt war, nie wieder betreten zu können, weil sie
bald aufs Land gehen würde.
    »Dann sollten wir keine Zeit
verlieren!«, rief er aus. »Wir werden in dieses Haus gelangen, und wenn wir die
Mauern einreißen müssen!«
    Ich dankte ihm für seinen mutigen
Vorschlag, obwohl ich wusste, dass nur ein Narr so etwas versuchen würde. Aber
ich hatte eine letzte Idee. »Sie wird in drei Wochen bei der Premiere der Oper
sein. Wenn es mir irgendwie gelänge, ihr dort eine Botschaft zu übermitteln,
könnte ich ihr sagen, sie solle sich wegstehlen. Vielleicht könnten wir
fliehen.« Meine Stimme zitterte, als ich meinem Freund von diesem Plan
erzählte. Würde er ihn für töricht halten?
    »Du wirst sie in der Oper entführen!«,
rief er aus und blickte so angestrengt in die Dämmerung, als sähe er in den
rosa Wirbeln des Himmels eine Vision von uns beiden.
    Wie ein

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