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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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befürchtete er, dass ihn das, was
jetzt folgte, aus dem Sessel werfen würde.
    »Aber es gibt eine Bedingung«, sagte
ich.
    Tassos Gesicht versteinerte. »Eine
Bedingung?«, wiederholte er.
    »Ja, Amor sagt, dass ich mich auf dem
Rückweg nicht zu Eurydike umsehen darf, bis wir die Höhlen jenseits des Styx
verlassen.«
    »Aber warum?«
    »Das ist der Wille der Götter.«
    »Aber das ist nicht fair!«
    »Die Götter sind nicht fair.«
    »Aber du bekommst sie auf jeden Fall
zurück?«
    »Du musst zuhören.«
    »Dann fang schon an!«, bellte er.
    Ich sang. Im Geiste stieg ich in die
stygischen Höhlen hinab. Angiolinis Furien tanzten um mich herum. Ich bat sie,
sich meiner zu erbarmen, aber sie schwärmten aus und schrien, um mich zu
vertreiben. Doch sie konnten mir keine Angst einjagen, denn ihre Hölle war
nichts im Vergleich zu der einsamen Hölle in meinem Herzen. Ich sang für sie:
Ihr wäret nicht so grausam, wüsstet ihr um die Tiefe meiner Liebe.
    Nicolais Gesicht war nass. Er wischte
sich die Tränen mit seinem geschwollenen Handrücken ab. Draußen auf der Straße
herrschte ebenfalls gespannte Erwartung, denn unter unserem Fenster hatte sich
eine Menschenmenge versammelt. Kutscher riefen, weil ihre Wagen nicht
durchkamen, und Männer benutzten ihre Ellenbogen, um näher an unser Fenster zu
gelangen. Schließlich unterbrachen die Furien auf der Bühne ihren Tanz. Sie
wichen verwundert zurück, weil es in der Hölle eine solche Liebe gab. Sie
ließen mich durch.
    Die Tore zur Unterwelt öffneten sich.
    Ich machte eine Pause. Im Wohnzimmer
herrschte Stille. Remus schluckte, und Nicolai wischte sich mit dem Ärmel über
die Stirn. Tasso kaute auf seiner Unterlippe herum. Ich ließ sie nicht lange
warten, sondern begann mit der Arie, die mich vor zwei Monaten in Guadagnis
Ballsaal gelockt hatte. Aus der dunklen, feurigen Höhle trat ich auf die warmen
und hellen elysischen Felder. Der Himmel war klar, und Hoffnung füllte mein
Herz. Im Kopf hörte ich die beruhigenden Noten von Glucks Oboe.
    Mein Lied war eine warme Decke, die
ich über meine Freunde breitete. Ich wollte sie ebenso beruhigen, wie die Musik
mich beruhigte. Ich wollte sie die Hoffnung fühlen lassen, die ich im Herzen
trug. Tasso schürzte die Lippen, und Nicolai schloss die Augen, als badete er
in der Wärme meiner Stimme. Remus’ Stirn war glatt, seine Augen ruhig. Er hatte
noch nie so gut ausgesehen.
    In der Dunkelheit draußen war es
still. Diese Arie würde die Straße verändern; ich würde nie wieder dort
entlanggehen, ohne dass die Leute mich anstarrten und flüsterten: Das ist der
Sänger, der in jener Herbstnacht gesungen hat. Seinetwegen sind wir stehen
geblieben und haben zugehört. Er hat uns zittern lassen. Er hat meine Mutter
lächeln lassen. Seinetwegen hat unser kranker Vater das Bett verlassen und am
Fenster stehend zugehört. Er ist unser Orpheus! Gluck hätte mich inständig
gehasst, wäre ihm bewusst gewesen, dass ich sein Genie an so einfache Ohren
verschwendet hatte.
    Und dann war sie da, in meiner
Vorstellung, der Schatten ihrer Gestalt. Ich streckte die Arme nach ihr aus,
aber gerade als sie ins Licht trat – bevor ich ihr Gesicht sah –, wandte ich
mich ab, denn ich durfte sie nicht ansehen oder sie würde noch einmal sterben.
    Als ich die Arie beendete, atmete
Nicolai ganz weich und öffnete die Augen nicht, als würde er schlafen. Tasso
beugte sich zu mir. »Ist sie zurückgekommen?«, flüsterte er. Er wollte den
Zauber der Nacht nicht stören.
    »Ja«, sagte ich. Ich hob die Hand.
»Ich halte sie an der Hand. Sie lebt wieder, aber wenn ich sie ansehe, stirbt
sie.«
    Tasso atmete heftig ein.
    »Sie weiß es nicht«, sagte ich. »Sie
glaubt, ich liebe sie nicht mehr. Das schmerzt mich. Sie singt, dass sie lieber
wieder tot wäre, als ohne meine Liebe zu leben. Es ist wie ein Dolch in meinem
Herzen. Ich möchte ihr sagen, dass die Götter mir verbieten, ihr in die Augen
zu sehen. Und dass ich nichts lieber täte! Aber ich darf kein Wort über diesen
Pakt verlieren, denn sonst ist er gebrochen, und sie stirbt.«
    »Sing den Rest auf Deutsch«, sagte
Tasso. »Ich möchte nicht auf die Erklärung warten müssen.«
    »Tasso«, sagte ich sanft. »Dann stimmt
der Text nicht mit der Musik überein.«
    Remus machte Tasso ein Zeichen, sich
auf die Armlehne seines Sessels zu setzen. Er würde ihm die Übersetzung ins Ohr
flüstern.
    Ich schloss die Augen. Flammen
züngelten über die Wände. Ich hielt ihre Hand in meiner, aber

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