Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
wahr. Nicht nur sind alle Berichte falsch, weil sich die Ereignisse in
jener gefeierten Nacht im Oktober 1762 ganz anders als in der offiziellen
Geschichte abgespielt haben, sie sind zweifach falsch, weil diese Nacht in
Wirklichkeit gar nicht die Premiere war. Die echte Premiere fand mehrere Tage
vorher statt. Die Kaiserin war nicht anwesend, nicht einmal der Komponist war
da. In Wirklichkeit war der Aufführungsort ein beengtes Wohnzimmer in
Spittelberg. Das Publikum bestand aus lediglich drei Menschen: aus einem Wicht
von einem Bühnenarbeiter, der nicht Italienisch konnte und der Orpheus noch
zwei Monate zuvor für eine Blumensorte gehalten hatte, einem an Syphilis
erkrankten früheren Mönch und einem weltfremden Wolf, der zwei Dutzend
Fassungen der Orpheus-Sage kannte und in jeder Sprache, die einem einfiel, aus
Ovids oder Vergils Version zitieren konnte.
Ich holte vier Tassen schwarze Magie.
Ich drehte Nicolais Sessel zu meiner behelfsmäßigen Bühne vor dem leeren Kamin.
Ich befahl Remus, sein Buch zu schließen. Ich erzählte Tasso, dass Orpheus der
größte aller Sänger war und vor langer, langer Zeit gelebt hatte, dass ich ihn
aber heute Abend ins Leben zurückholen würde. Ich erklärte, meine geliebte Frau
Eurydike sei gestorben.
»Was ist denn dann der Sinn?«, fragte
Tasso. »Warum singst du nicht lieber von jemand anderem?«
Nicolai schüttelte den Kopf. Ich
begann.
Es war nicht die größte Vorstellung
meines Lebens. Das Orchester und der Chor musizierten nur in meinem Kopf, und
deshalb gab es für mein Publikum lange Phasen der Stille. Als ich anfing,
presste ich volle vier Minuten lang die Fäuste an meine Brust und bewegte mich
nicht – wie ich es Guadagni auf der Bühne während des coro zu Beginn hatte tun
sehen. Mein Publikum hörte nur meine drei Schreie: Eurydice! Gluck hatte Guadagni gesagt, er solle singen, »als
würden seine Knochen durchsägt«. Und ich sang genauso. Nicolai fuhr bei jedem
Schrei zusammen, und Tassos Knopfaugen weiteten sich.
Es war eine warme Nacht, und die
Fenster standen offen. Gelegentlich wurden Kinderschreie, betrunkene Flüche,
verlockende Versprechungen und lustvolles Stöhnen durch die Luft getragen, was
mich daran erinnerte, dass man an diesem Ort nicht leise sein musste. Mein
Gesang würde sich einfach mit den anderen Geräuschen vermischen. Wer würde
schon zuhören?
Aber ich irrte mich: Als ich für den
Riesen, den Wolf und den Zwerg im Wohnzimmer sang und nach meiner toten Frau
rief, verließen ganze Familien die gedrängte Tischrunde und traten ans Fenster,
um festzustellen, wer da trauerte. Die Kinder auf der Straße unterbrachen ihr
Spiel. Männer stellten ihr Bier zur Seite und sahen in den Himmel. Die Schreie
nach meiner Geliebten erweckten jedes Herz im Viertel.
Mir war gar nicht klar, dass man mich
außerhalb des Raums hörte. In dem Theater in meiner Vorstellung verließ der
Chor die Bühne und ich, Orpheus, blieb alleine zurück. Der Tod hatte mir
Eurydike grausam und unwiederbringlich genommen. Ich rief sie mit meinem
Gesang. Dann, als das Orchester anschwoll, spürte ich, dass meine Trauer zu
einer Wut wurde, wie ich sie reiner nie erlebt hatte. Ich hasste die gierigen
Götter für das, was sie mir geraubt hatten.
Meine Hände bebten, als ich sang. Als
ich die Augen wieder öffnete, drückte sich Tasso unter der Macht meiner Stimme
in seinen Sessel. Meine Flüche brachten die leeren Tassen auf dem Tisch zum
Klirren. Unten im Kaffeehaus hatten die Männer aufgehört zu debattieren.
Nachdem ich mit dem Singen fertig war,
rang ich nach Luft. Nicolai klatschte mit seinen rundlichen Händen. Remus
schüttelte verwundert den Kopf. Tasso blickte von einem Mann zum anderen,
ballte die Fäuste und löste sie wieder.
»Ich kann die Duette nicht allein
singen«, sagte ich. Tasso runzelte die Stirn, als wittere er einen Betrug.
»Aber ich erzähle euch, was ihr verpasst«, fuhr ich fort. »Meine Trauer ist so
groß, dass Zeus Mitleid mit mir hat. Er schickt Amor, den Liebesgott, der mir
sagt, dass ich meine Eurydike zurückbekomme, wenn es mir gelingt, mit meinem
Gesang die Furien in der Unterwelt zu rühren.«
Tasso presste die Handflächen
aneinander und sah Remus an, der unser Experte war. Als Remus zustimmend
nickte, grunzte Tasso.
»Ich wusste doch, dass sie nicht
wirklich tot ist!«, sagte er.
»Doch, das ist sie«, sagte ich. »Aber
ich kann sie retten!«
»In Ordnung«, sagte er. »Ich bin
bereit.« Er umklammerte beide Armlehnen, als
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