Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
und drückte mein anderes Ohr gegen seine Brust, aber ich
zappelte, bis er mich absetzte. Vom Ufer der Reuss blickte ich in die Berge hinauf.
Meine Mutter lebte!
Ich beachtete den freundlichen Mann
nicht, der mich vor dem Ertrinken gerettet hatte. Remus versuchte, ihn
wegzuziehen, aber Nicolai stand einfach da, hielt sich die Ohren zu und
betrachtete mich – den kleinen Jungen, dem der Lärm, der den Boden unter unseren
Füßen zum Zittern brachte, offensichtlich nichts ausmachte.
Meine Mutter hatte sich so weit
erholt, dass es ihr gelungen war, auf die Füße zu kommen und in den Turm
hinaufzusteigen! Und jetzt schlug sie ihre Glocken so kräftig an, als würde sie
die Berge selbst mit dem Hammer bearbeiten.
Eine Viertelstunde verging und noch
eine. Remus stopfte sich Wolle in die Ohren und nahm ein Buch heraus. Nicolai
hatte die Finger in die Ohren gesteckt und betrachtete mich, als sei ich ein
seltsames unbekanntes Tier. Meine Mutter läutete ihre Glocken viel länger, als
man es ihr erlaubt hatte. Vor vielen Jahren war sie für einen solchen Exzess
geschlagen worden. Ich wusste, dass die Leute von Nebelmatt jetzt mit Gerten in
der Hand hinter ihren Türen hockten und darauf warteten, so bald wie möglich
ungefährdet zur Kirche hinaufsteigen zu können.
Und trotzdem tat sie es. Sie schlug
die Glocken heftiger an, als ich es je gehört hatte. Es gab fast keine Pause
zwischen den Schlägen. Dann hörte ich eine plötzliche Veränderung – der
Schlagring der kleinsten Glocke hatte einen Sprung bekommen, aber sie machte
weiter.
Mir war klar, dass sie ihn zu sich bestellte.
Während mein Vater den mühsamen Rückweg auf dem steinigen Pfad machte,
schweißgebadet und besudelt mit Schlamm und Schande, muss er das Geläute als
Urteil aufgefasst haben, das für die ganze Welt verkündet wurde. Und er muss
sie für jeden Glockenschlag gehasst haben, so wie er sie dafür hasste, dass sie
ihn in Versuchung geführt hatte, dass sie durch ein Kind seine Sünde offenbar
gemacht hatte, dass sie ihn zum Mörder gemacht hatte. Bei jedem Glockenschlag
muss er sich geschworen haben, sie zum Schweigen zu bringen.
Mit der Drohung, seine Schuld lauthals
zu verkünden, bis er sie daran hinderte, lockte sie ihn den schlammigen Pfad
hinauf. Ich bin sicher, dass sie sein Herankommen beobachtete, und trotzdem
wurde ihr Läuten nicht langsamer oder leiser. Die Tränen rannen mir über das
Gesicht und ich schrie nach meiner Mutter. »Ich bin hier!«, rief ich. »Ich
lebe!« Aber selbst Nicolai konnte mich kaum hören. Noch lauter schlug sie die
Glocken an und forderte meinen Vater heraus, auf ihren Turm zu steigen und ihr
Einhalt zu gebieten. Wie im Sturm grollte der Boden und der Fluss ließ seine
Wellen an unseren Füßen brechen; ich schloss die Augen und im Auge des Sturms
sah ich meine Mutter, die ihre Glocken läutete und meinen Vater herbeirief.
Zwanzig Jahre später, als ich zum
ersten Mal in jenes Tal zurückkehrte, machte die Legende über den Priester, der
die Ohren von Nebelmatt gerettet hatte, immer noch die Runde in jedem
Wirtshaus. Sie hielten mich für einen Fremden und erzählten mir von dem sanften
Priester und der bösen Hexe, die sich in ihrem Glockenturm verschanzt hatte und
Tag und Nacht die Glocken anschlug, bis die Dorfbewohner den Verstand zu
verlieren begannen. Sie erzählten mir, wie der heilige Priester den Pfad zur
Kirche erklomm und in dieser verschwand – Gott hatte ihm überirdischen Mut
verliehen. Vom Dorf aus beobachteten sie, wie seine Gestalt durch die Falltür
in die Glockenstube sprang. Sie tanzte um ihn herum und schlug ihre Glocken an,
bis seine Ohren durch den Lärm zerstört waren. Als die Welt stumm geworden war,
stürzte er sich auf die flinke Teufelin, die blitzschnell zwischen den
dämonischen Glocken hin und her sprang. Er griff nach ihrem Kleid, stürzte
beinahe, taumelte am Abgrund, klammerte sich nur an einen winzigen Fetzen
Stoff. Er schrie laut, dass sie ihm helfen solle, aber sie sprang auf ihn zu,
als wolle sie ihn umarmen.
Dann sahen alle im Dorf, wie beide vom
Turm fielen.
Ein neuer Priester wurde niemals
angefordert. Die Glocken wurden eingeschmolzen und wieder zu Werkzeugen
gemacht.
Aber an jenem Tag, als ich am
Fluss stand und zu meiner Mutter hinaufschrie, dass ich lebte, stellte ich mir
etwas ganz anderes vor. Sie läutete ihre Glocken so heftig, dass ich dort im
Zentrum des Getöses glaubte, die Welt würde alle Festigkeit verlieren, die
Schallwellen jede Körperfaser
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