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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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ein:
das Schlagen der Wellen, im Boot das Stöhnen der Riemen in ihrer Halterung, das
gemessene Marschieren der Soldaten, das Dröhnen ihrer Musketenübungen, das
Ächzen eines Pfluges im Schlamm, der Wind in einem Feld mit Frühlingshafer. Wir
wurden von Händlern überholt, die in tausend verschiedenen Zungen sprachen, und
Nicolai erzählte mir, wie sie die Alpen nach Italien überquert hatten.
    Auf unserem Weg umschwärmten Bettler
unsere Pferde und streckten knochige Hände aus, wobei sie wie Ziegen meckernd
klagten. Nicolai warf ihnen Kupfermünzen zu, während Remus so tat, als hörte er
ihre Schreie nicht. Ich hatte große Angst, dass sie mich vom Sattel ziehen
würden, um mich zu kochen und als Eintopf zu servieren. Langsam begann ich zu
verstehen, dass es eine Million Menschen mit einer Million Schicksalen auf der
Welt gab. Und die Welt meinte es mit den meisten von ihnen nicht gut.
    Und hier war ich – ohne Vater, ohne
Mutter, ohne Zuhause, in das ich zurückkehren konnte.

VI.
    Morgens weckte uns Nicolai
mit der Vigil. Gewissenhaft erfüllte er seine religiösen Pflichten, standhaft
absolvierte er den wöchentlichen Psalmenzyklus. Nur ein Buch hatte er auf die
Reise mitgenommen – eine schmale, in Leder gebundene Benediktsregel , die er gar nicht benötigte, denn er hatte sie durch
tägliche Lektüre im Laufe von fast vierzig Jahren auswendig gelernt. Remus und
ich blieben im Bett, bis er seine Gebete beendet hatte, und dann gab es
Haferbrei, große Käsebrocken und Bier zum Frühstück.
    Jeden Tag hielten wir einen Augenblick
des Schweigens ab, bevor wir aufs Pferd stiegen, und dachten düster an die
Zukunft, aber Nicolai nahm uns immer schnell die Last von der Seele. Er begann
zu reden und hörte nicht wieder auf, bis die Kerze am Abend ausgeblasen wurde
und wir einschliefen.
    »Warst du schon mal in Rom?«, fragte
Nicolai mich an einem der ersten Tage. Remus schnaubte, als er die Frage hörte.
Ich schüttelte den Kopf.
    »Das ist ein Ort! Eines Tages gehen
wir zusammen hin, Moses – du und ich und der Wolf da. Obwohl sich sein Herz
nach seinem eigenen Bett sehnt, will Remus bestimmt dorthin zurückkehren. Weißt
du, in Rom gibt es ganze Bibliotheken voller Bücher, die niemand liest. Deshalb
hat der Abt uns auch gehen lassen. Remus meint nämlich, er müsse jedes Buch der
Welt lesen, und sei es auch noch so langweilig oder nutzlos.«
    »Und das sagt ein Mann, der meint,
Bibliotheken sollten ihren Besuchern Wein anbieten«, murmelte Remus, ohne
aufzusehen.
    »Natürlich sollten sie das«, sagte
Nicolai. »Dann würde ich gerne hingehen und die eine oder andere Seite lesen.«
Er breitete seine Arme aus und lehnte sich leicht zurück, damit er sich einen
Augenblick lang sonnen konnte. Sein Lachen schüttelte das Pferd durch. »Aber
nur für ein paar Minuten! In Sankt Gallen gibt es genug Bücher für mich – mehr
als genug. Rom, Moses! Rom! In jeder Ecke liegt der Staub von Göttern! Und die
Musik! Die Oper! Wie könnte ich da auch nur einen Augenblick an ein Buch
verschwenden!«
    Er erzählte mir, dass wir auf dem
Rückweg in ihre Heimat seien, in dieses Sankt Gallen, das so hieß, weil ein Mann
namens Gallus aus einem Ort namens Irland Fieber bekommen hatte und vor mehr
als tausend Jahren in einen Wald getaumelt und in einen Dornbusch gefallen war.
Der Ort war eine Abtei – ein Wort, das zwischen Nicolai und Remus häufig fiel
–, und ich war neugierig darauf, seine Bedeutung zu erfahren. Es gab noch mehr,
was ich über diesen Ort mitkriegte: In seinen Kellern lagerten die besten Weine
der Welt, die Betten waren weicher als in Rom, es gab dort die größte
Bibliothek des Landes, und Remus hatte jedes der Bücher gelesen (Nicolai hatte
drei gelesen), und es gab etwas ganz Abscheuliches, das als Abt bezeichnet
wurde. Dabei handelte es sich um einen Mann, der entweder Coelestin von
Staudach oder Choleriker von Staubdreck hieß, aber ich wusste nicht, welches
der richtige Name war. Meistens bezeichnete Nicolai ihn nur als »Staubdreck«.
    Nicolai erzählte mir auch, dass die
meisten Leute Remus »Dominikus« nannten, dass nur seine Freunde (von denen es
im Moment lediglich einen gab, aber ich könnte gerne der zweite sein) seinen
wirklichen Namen kannten, nämlich Remus, und dass er von Wölfen aufgezogen
worden sei. Das bezweifelte ich nicht: Immer noch warf Remus mir in
regelmäßigen Abständen mürrische Blicke zu, obwohl er auch beim Reiten meistens
die Nase in sein Buch steckte – sein Pferd

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