Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
meiner Eltern zerreißen. Nur ich konnte in dem
Geläute den Schrei meines Vaters von den Bergen widerhallen hören. Vielleicht
war das der Moment, in dem seine Trommelfelle platzten. Aber damals glaubte
ich, sein Körper würde vom Schall auseinandergerissen.
Die Glocken läuteten nicht mehr. War
sie fort? Dessen war ich mir sicher. Um mich herum summte das Echo mehrere
Minuten lang. Genau wie jeder Tropfen Wasser in einem Ozean einmal ein
Regentropfen war, wusste ich, dass in den Glocken meiner Mutter jeder Klang der
Welt gewesen war – das Plätschern des Baches, das Schwirren der Schwalben, die
Fliegen fingen, der warme Atem des freundlichen Mönchs, der hinter mir stand.
Meine Mutter war fort, und sie war überall.
Nicolai hustete leicht. Er hob mich
hoch und ich schmiegte mich in seine Arme. Je mehr ich weinte und schluchzte,
desto fester hielt er mich. Remus öffnete den Mund, um zu protestieren, aber
Nicolai wies ihn mit der riesigen Handfläche zurück. Der hässliche Mönch hielt
den Mund und schüttelte den Kopf. Nicolai trug mich zur Straße, wo die drei
größten Pferde standen, die ich je gesehen hatte. Remus kam hinter uns
hergeschlichen, und Nicolai schwang sich mit mir auf das Leitpferd, wo er mich
zwischen seine mächtigen Schenkel setzte. »Halt dich fest«, sagte er. Ich fand
nichts zum Festhalten, und als das Pferd seinen ersten schaukelnden Schritt
machte, schrie ich erschreckt auf und versuchte, auf den sicheren Boden zu
springen. Nicolai zog mich zurück. Ich schloss die Augen, während mir die
Tränen über die Wangen liefen, und versuchte, mir das Gesicht meiner Mutter
vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Deshalb lauschte ich zum Trost auf das
hohle Geräusch, mit dem Nicolai dem Pferd sanft in die Flanke stieß, auf das
Platschen der riesigen Hufe im Matsch, auf das Rascheln der Pferdemähne. Ich
sah nach vorn auf die verschlafene Straße und fragte mich, wie weit man die
Glocken meiner Mutter hatte hören können.
In Gurtnellen bogen wir von der Straße
ab, und in dieser Stadt mit dreihundert Seelen glaubte ich, wir hätten den
Mittelpunkt des Universums erreicht. Die Männer trugen keine braune, sondern
graue oder weiße Kleidung. Einer von ihnen zog eine Uhr hervor, und ich hielt
ihr Ticktack für das schlagende Herz eines winzigen Tieres, das er in der
Tasche trug. Eine Dame verließ ein Haus, das aus Stein gemauert war, und
öffnete ihren Sonnenschirm mit einem Knall, der mich erschreckt nach Nicolais
dickem Arm greifen ließ.
Remus flüsterte Nicolai zu, dass uns
der Anblick eines nackten Jungen im Schoß eines Mönches Schwierigkeiten
einbringen könnte, und deshalb kaufte Nicolai mir bei einem Schneider eine
Unterhose aus Leinen und eine Kniehose aus Wolle. Das Leinen war weich wie eine
Feder, aber die Kniehose war so unbequem, wie es Karl Victors Gürtel an meinem
Hals gewesen war. Später gingen wir in ein Gasthaus und aßen dampfenden Eintopf
und tranken Wein. Nach acht oder zehn Gläsern des sauren Gesöffs stellte
Nicolai einen Fuß auf seinen Stuhl. »Meine Herren«, sagte er zu den Händlern
und Bauern in der Gaststube, »ich will euch lehren, was ich in Rom gelernt
habe.« Er klatschte in die Hände, senkte das Kinn und sang mit seinem
dröhnenden Bass ein so albernes Lied in einer Sprache, die ich für Kauderwelsch
hielt, dass ich zum ersten Mal seit vielen Tagen lachen musste. Die Männer in
der Gaststube jubelten und klatschten, aber Remus lief rot an und nach einem
zweiten Lied zerrte er uns zur Tür.
Wir schliefen in Gasthäusern, die
an unserem Weg lagen. Ich hüllte mich auf dem Fußboden in Decken, und Nicolai
und Remus schliefen in Betten. Wenn ich während der Nacht schniefte, wachte
Nicolai auf und rollte sich neben mir auf dem Boden zusammen, dessen Dielen
unter ihm knirschten. »Kleiner Moses«, flüsterte er mir dann ins Ohr, »diese
Welt ist riesig und voller Freuden, die alle nur auf dich warten. Du brauchst
keine Angst zu haben. Nicolai ist jetzt bei dir.«
Am dritten Tag verließen wir den
Kanton Uri und kamen in den Kanton Schwyz, wo wir am Vierwaldstätter See
entlanggingen. Ich wusste, dass in diesem See grauenhafte Untiere lebten. Aber
selbst die Ungeheuer meiner Fantasie waren mir vertrauter als die Zivilisation,
der wir jetzt begegneten. Die Welt war viel, viel größer, als ich mir das je
vorgestellt hatte. Mit der Verzweiflung eines Geizhalses, der den Inhalt einer
ausgeschütteten Geldkassette aufklaubt, sammelte ich all die neuen Laute
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