Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
sagen. Nein! Könnt ihr es denn nicht
hören? Wir haben bereits verloren!
Der Arzt steht in Amalias Tür. Seine
Haare sind schweißfeucht, sein Gesicht glänzt. Sein Kragen ist geöffnet. Er hat
Blutspritzer im Gesicht und auf der Brust. Seine Arme sind bis zu den
Ellenbogen blutig, als hätte er sie in einen Fluss aus Blut getaucht. Er hält
das schreiende Kind. Die Hebamme hebt eine Lampe über die Schulter des Arztes.
Das nasse Kind glänzt, es schreit, dann ringt es stumm nach Luft und starrt an
die Decke. Es streckt die Hände vor und erschrickt – und schreit wieder.
»Ich habe den Jungen gerettet«, sagt
der Arzt. »Aber die Mutter konnte ich nicht retten.«
Meine Ohren haben diese Wahrheit
schon gehört, bevor sie jetzt meinen Körper überfällt. Remus fängt mich auf,
als ich wanke. Ich kann die Luft nicht aus meinen Lungen vertreiben. Ich
ertrinke in Luft. Ich kann mich nicht bewegen, aber die Welt steht nicht mit
mir still. Nicolai brüllt, und die Soldaten schlagen ihn mit ihren Stöcken
nieder, dann treten sie ihn mit ihren Stiefeln.
Das Baby schreit! Gräfin Riecher steht
mir gegenüber, das Kind ist zwischen uns, aber das Blut ekelt sie und sie
wendet ihr Gesicht ab. Die Schwester wickelt das schreiende Kind in ein Laken
und drückt es an ihre Brust.
Dann ist es vorbei; sie sind fort.
Tasso kniet neben Nicolai. Der Riese
stöhnt vor Schmerzen. Wie eine Statue hält die Hebamme immer noch die Lampe,
als Remus mit mir zu Amalias Bett geht.
Amalia ist mit einem Laken bedeckt.
Die obere Hälfte ist weiß, die untere leuchtet rot. Remus zieht es zurück,
damit wir ihr Gesicht sehen können. Es ist makellos – nirgendwo Blut. Sie sieht
aus, als schliefe sie, aber ich höre, dass es nicht so ist, denn sie atmet
nicht, und diese Stille ist wahrhaftig das lauteste Geräusch, das ich jemals
gehört habe. Es bringt alles an mir zum Zittern, und ich würde in tausend Teile
zerbrechen, wenn Remus mich nicht festhielte und mich umarmte wie einen Sohn.
XXII.
Als ihre Mutter starb,
hatten tausend Menschen die vollkommene Kirche gefüllt. Ein ganzer Chor hatte
gesungen. Die Steine der Kirche hatten für sie geklungen. So viele Blumen waren
vor ihrer Gruft abgelegt worden, dass diese auf Rosen zu ruhen schien.
Amalia wurde auf dem beengten Friedhof
hinter der Sankt Michaelskirche in Spittelberg begraben. Anstelle von Blumen
wuchs Unkraut. Ranken schienen die knorrigen Eichen zu ersticken. Grabsteine
lagen umgestürzt auf den Gräbern, als sollten sie die Toten davon abhalten, an
einen besseren Ort zu fliehen.
An dem Tag, als wir sie zu Grabe
trugen, fiel der kalte Regen so heftig, dass Amalias einfacher Holzsarg in dem
Grab schwamm, bis wir Erde hineinwarfen, um ihn zu beschweren. Der junge
Priester hetzte durch seinen Segen und wandte sich zum Gehen. Dann wäre es zu
Ende gewesen, aber Nicolai begann, das Agnus Dei zu singen.
Seit vielen Jahren war es das erste
Mal, dass ich ihn singen hörte. Seine sonore Stimme erhob sich über den
prasselnden Regen. Ich beugte den Kopf, sodass die Tropfen in meinen Nacken
fielen und mir in eisigen Strömen über den Rücken rannen. Der Regen vermischte
sich mit meinen Tränen. Tasso und Remus versanken mit den Füßen langsam im
Schlamm, aber sie zogen sie nicht heraus, bis Nicolai sein Bittgebet beendet
hatte.
Der kalte Regen machte mich im Verein
mit unserem Kummer krank. Ich bekam Fieber, und zehn Tage lang lag ich in
Amalias Totenbett. Remus hatte den Raum von ihrem Blut gereinigt, hatte
unermüdlich die Wände und den Boden und die Bettpfosten geschrubbt, aber es war
in die Ritzen zwischen den Dielen gesickert und drang in meine Träume ein.
Genau wie der blinde Ulrich machte Remus wieder und wieder sauber – und immer
noch hörte ich ihren Atem. Ich hörte sie Worte der Liebe flüstern. Als sie
versuchten, mich in Nicolais Zimmer zu legen, schrie ich.
Sie brachten mich zu einem Arzt. Er
ließ mich zur Ader und gab mir bittere Kräuter, aber mein Zustand besserte sich
nicht. Meine Freunde glaubten, sie würden auch mich begraben müssen. Nach
mehreren Wochen jedoch verschwand das Fieber, und der Raum roch nicht mehr nach
Blut. Ihre Klänge jedoch waren tief in meinem Gedächtnis verankert, und ich
bewahrte sie, als wären sie ein silbernes Medaillon mit ihrem Porträt.
Eines Nachts wurde ich vom Schreien
eines Kindes geweckt. Ich schoss hoch, stürzte aus dem Bett, an dem schlafenden
Remus vorbei und die Treppe hinunter. Ich stand barfuß und
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