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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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halbes Dutzend Männer um. »Er hätte
uns alle getötet.«
    Lässig zuckte Tasso die Achseln. »Aber
ich war zu schnell für ihn. Ich hängte mich an eine Schlinge, löste ein
Gegengewicht und schoss direkt an seinem Kopf vorbei. Das Messer habe ich ihm
einfach aus der Hand geschlagen. In der Kohlenrutsche habe ich gelächelt und
ihm zugewinkt. ›Du wirst diese Nacht nicht überleben‹, knurrte er und
versuchte, wieder auf die Bühne zu klettern, was er aber nicht schaffte – er
schlug um sich wie eine ertrinkende Ratte, die sich auf ein Stück Treibholz
retten will, bis zwei Bühnengehilfen kamen und ihn hochzogen. Sie haben ihn
ausgelacht! Das ganze Theater hat Guadagni ausgelacht! «
    Auch wir lachten und bejubelten Tasso,
den Helden, aber schließlich unterbrach Remus uns und wies darauf hin, dass
Guadagni seine Drohung vermutlich ernst gemeint hatte. »Am besten versteckst du
dich in der Kutsche, bis wir mit allem fertig sind«, riet Remus ihm. »Er wird
gewiss hier nach dir suchen.« Tasso riss erschrocken die Augen auf. Er
verschwand so schnell wie eine Maus.
    Wie Remus vorgeschlagen hatte,
verbrachte Tasso diese letzten beiden Tage damit, unsere Kutsche und unsere
Pferde vorzubereiten. Er zeigte mir auch, wie man das Gespann lenkte, und ich
fand das genauso schwer wie Jonglieren. Als wir schließlich meinten, fertig zu
sein, brachten wir unsere Besitztümer in unser neues Zuhause. Ganz zum Schluss
hoben wir mit Nicolais Hilfe Tassos Ofen auf das Dach der Kutsche und
befestigten ihn dort mit Riemen.
    Es war Mitternacht, als wir unsere
Räume zum allerletzten Mal verließen, und es war der 30. Dezember 1762, einen
Tag vor der Frist, die Guadagni uns gesetzt hatte. Wir brauchten fast eine
ganze Stunde, um die riesige Kutsche über die vereiste, unebene Straße zu
manövrieren. Tasso saß auf dem Kutschbock, ließ die Stuten langsam gehen und war
überaus vorsichtig, damit uns kein Rad brach. Wir kamen zum Glacis, wo silbern
der Vollmond über der weiten Schneefläche leuchtete. Als wir darüberfuhren,
knackte der vereiste Boden, als würde sich die Erde darunter im Schlaf bewegen.
Durch das Burgtor fuhren wir in die Stadt. Die Straßen waren leer, die Fenster
dunkel. Die Stadt schlief – genau, wie ich es geplant hatte.
    Tasso lenkte die Kutsche zum Palais
Riecher, und als wir eintrafen, lehnte ich mich aus der Kutschentür und
flüsterte ihm zu, wo er halten sollte.
    Ich wandte mich wieder an meine
Freunde. »Fertig?« Sie nickten, und wir brachen auf.
    Wir gingen zurück zum Stephansdom, der
als schwarzer Turm in den Himmel ragte. Remus und ich hielten Nicolai am Arm,
damit er auf den vereisten Stellen nicht stürzte. Bald erreichten wir die
Kirche und schlüpften hinein. Im Eingang blieben wir stehen. Das höhlenartige
Längsschiff wurde schwach von Kerzen erleuchtet, aber das Licht reichte nicht
bis dort hinauf, wo sich die Säulen verzweigten. Wir sahen niemanden, aber ich
hörte das Knarren einer Kirchenbank und leise Schritte auf dem Steinboden und
wusste, dass wir nicht allein waren. Nicolai blinzelte zum Altar hin, als ob
sich dahinter etwas Böses versteckte.
    Ich flüsterte Tasso zu, er solle mir
folgen. Ich zeigte ihm, welche Tür geöffnet werden musste. Der kleine Mann
huschte durch den Schatten darauf zu. Ich hörte Metall klimpern, als er das
Schloss vorsichtig erforschte. Dann hörte ich das fröhliche Quietschen der
Angeln.
    Langsam erklommen wir die Stufen.
Nicolai kroch uns auf allen vieren voran, und sobald wir wussten, dass wir
außer Hörweite der Leute im Kirchenschiff waren, sagte er zwischen keuchenden
Atemzügen: »Ich spüre … wie die Last … meiner Sünden mit jeder Stufe leichter
wird.« Ich hoffte im Stillen, er würde nicht stürzen und uns alle in den Tod
reißen.
    Endlich erreichten wir die Spitze und
ruhten uns ein paar Minuten aus. Ich zündete eine Kerze an. Nicolai wischte
sich mit dem Ärmel seines zerlumpten Rocks über die Stirn. Blinzelnd blickte er
auf die sechzehn Glockenseile, die durch die sechzehn Löcher in der Decke
kamen.
    »Wenn sechzehn Männer nötig sind, um
sie zu läuten, wie sollen wir drei das bewerkstelligen? Du überschätzt meinen
Leibesumfang, wenn du glaubst, ich komme vierzehn Männern gleich.«
    »Nein«, sagte ich, stand auf und ging
zu einem der Seile. »Sechzehn sind nicht notwendig. Man muss es nur
koordinieren. Sechzehn Männer könnten sie zwar nicht einmal anheben, aber ihr
drei könnt sie in Bewegung bringen. Ihr könnt sie zum

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