Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
obwohl die
Stadt langsam erwachte. Der Frost auf den Fensterscheiben dämpfte den Schein
der Laternen. Eine Woche zuvor hatte es geschneit, und zum ersten Mal stank die
Luft in Spittelberg nicht nach Urin und Verfall.
Ich konnte nicht feststellen, ob er
recht hatte, ob es wirklich der Weihnachtstag war. Auf der Straße gab es keine
Anzeichen für einen Feiertag. »Früher war mir das der liebste Tag des Jahres«,
sagte er. »Wir haben so schöne Messen gesungen!« Er lachte traurig. Seine Augen
wurden feucht. »Fünfundvierzig Jahre, Moses! Fünfundvierzig Jahre, und ich habe
jeden Morgen in einer Kirche verbracht. Und jetzt habe ich schon seit fünf
Jahren kein einziges Gebet mehr verrichtet.«
Ich sah ihn an, aber er schüttelte den
Kopf.
»Nein«, sagte er. »Kein einziges.«
Mein Freund war in Decken gehüllt. Ich
konnte nicht erkennen, wo sie aufhörten und wo sein umfangreicher Körper
begann. Er zuckte die Achseln und die ganze Masse hob und senkte sich.
»Ich möchte beten, wirklich«, sagte
er. »Es ist nicht so, als hätte ich Gott aufgegeben. Ich bin kein Hiob, und ich
beklage mich nicht. Ich verdiene alles, was mir geschehen ist, und mehr. Aber
es gibt Dinge, um die ich Gott gerne bitten würde.« Nicolai zuckte wieder die
Achseln. »Aber wenn ich Gott um etwas bitten möchte, gibt es so viele Dinge,
die ich ihm zuerst erzählen müsste. Wie sollte ich anfangen? Und deshalb ist es
jedes Weihnachten dasselbe. Ich sage mir, dass ich noch ein wenig warten kann
und dass ich Ostern beten werde.«
»Ich gehe heute mit dir in eine
Kirche«, flüsterte ich, »wenn du möchtest.«
Er sah mich voller Wärme an, er war
glücklich, dass ich gesprochen hatte, noch glücklicher, dass er mir so viel
bedeutete. Aber er schüttelte den Kopf. »Nein, Moses. Das Problem ist, dass ich
nicht möchte. Dafür gibt es viele Gründe. Aber der wichtigste ist vielleicht
meine Angst, in dem Beichtstuhl zu sitzen und die Stimme fragen zu hören, ob
ich gesündigt habe. Und plötzlich erblicke ich auf der anderen Seite Staudachs
Gesicht!«
Bei diesem Namen verspürte ich Hass,
obwohl ich schon lange nicht mehr an den Abt gedacht hatte. Aber ich erkannte
auch, dass ich seine Macht nicht mehr fürchtete, wie es Nicolai offensichtlich
tat. »Vielleicht bist du noch nicht bereit dafür, dass dir vergeben wird?«,
meinte ich.
»Vielleicht«, begann Nicolai. »Aber
wenn es so wäre, würde ich es dann so stark wollen? Remus sagt …«
Aber ich hielt eine Hand in die Höhe,
denn ich hatte etwas gehört. Ein Flüstern in der Nacht.
»Was ist denn?«, fragte er.
»Hör zu«, sagte ich. Ich beugte mich
vor, und das Flüstern kehrte zurück, fünfzigmal lauter. Jedes Ohr in der Stadt
hörte jetzt das Läuten.
Sie hatte mich nach Wien gerufen,
und jetzt rief sie mich wieder. Die große Glocke läutete durch die Stadt und
rief die Gläubigen zur Weihnachtsmesse. Selbst aus so großer Entfernung war der
Klang immens. Nicolai bedeckte seine Ohren, obwohl ihn die Vibrationen, die ihn
durchliefen, vor Freude lächeln ließen.
Die riesige Glocke läutete mit einer
Million Töne, die sich überschnitten, um weitere Millionen hervorzubringen. Wie
das Licht des Regenbogens aus allen Farben der Welt besteht, so waren dies alle
Klänge der Welt. Ich hörte die Glocken meiner Mutter und Amalias freudige
Seufzer, sie schüttelten mich und verklangen in der gefrorenen Erde, und dann
waren sie wieder bei mir, waren für immer in dem Geläute bewahrt. Plötzlich
hatte ich die Hände vors Gesicht gelegt und weinte. Ich weinte, weil sie
gegangen war, ich weinte um die Träume, die ich verloren hatte, und ich weinte
um den Jungen, der mein Sohn gewesen wäre.
Sicher hörte auch er das Läuten in
seinem Palais direkt unter der Glocke. Ich wünschte, er könnte es so hören wie
ich, aber vermutlich war dieses Geräusch so furchterregend für ihn wie Donner.
Wer war dort, um ihn zu trösten? Wer hielt ihm die Ohren zu und drückte ihn an
seine Brust? Nicht sein Vater, nicht seine Großmutter; die Kinderschwester war
alles, was er hatte. Ich stellte mir diese kleine Frau vor, wie sie in unserem
Wohnzimmer geduckt hinter Gräfin Riecher gestanden hatte. Wie sollte sie ihre
eigenen Ohren bedecken und gleichzeitig die meines Jungen schützen können?
Das zauberte eine Vision herbei: Ich
hielt ihn, drückte sein eines Ohr gegen meine Brust und hielt meine Hand über
das andere. Ich hielt ihn fest im Arm und wiegte ihn. Ich sang leise, und
obwohl er meine
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