Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Schwingen bringen.«
Ich ergriff das Seil mit einer Hand
und zog kräftig. Das Seil hätte an der Decke festgehakt sein können, so wenig
Bewegung spürte ich. Aber ich lauschte. Die sechzehn Seile liefen durch
sechzehn Löcher in der Decke, dann durch sechzehn Flaschenzüge und vereinigten
sich zu einem einzigen Strang, der um das Rad gelegt war. Die Flaschenzüge
gaben ein winziges Quietschen von sich. Die Pummerin bewegte sich um die Breite
eines feinen Haares. Jetzt lauschte ich auf ein zweites Quietschen – das
Zeichen, dass ihre Bewegung den höchsten Punkt erreicht und sich umgekehrt
hatte –, und als ich das hörte, zog ich wieder. Dieses Mal war das Quietschen
lauter. Ich wiederholte diesen Vorgang – dann noch einmal und noch einmal und
noch einmal –, ruckte kräftig und regelmäßig an dem Seil und verspürte
schließlich ein Nachgeben.
»Sie bewegen sich!«, sagte Tasso und
zeigte auf die Seile.
Sie bewegten sich wirklich. Die Enden
aller sechzehn Seile knickten in perfekter Koordination auf dem Boden ein.
»Es wird eine Weile dauern«, sagte
ich, »bevor sie kräftig genug schwingt, um zu läuten. Aber das ist gut. Ich
habe nämlich viel zu tun.«
Remus legte seine Hand auf eines der
Glockenseile. Als er den Zug in seiner Hand spürte, verstärkte er die Bewegung.
»Ich kann es fühlen«, sagte er. Er ließ seinen Daumen über die ausgefransten
Fasern gleiten, als wäre das Seil ein exotisches Wesen, von dem er nie in
irgendeinem seiner Bücher gelesen hatte.
»Haltet es in Bewegung«, sagte ich und
ließ mein Seil los.
Ich nahm das Bienenwachs, die Wolle
und den Musselin aus meinem Sack und begann mit Nicolais Ohren. Ich füllte die
Höhlungen mit dem weichen Wachs und stopfte dann Wolle hinein. Um seinen Kopf
wickelte ich den Musselin in mehreren Lagen, damit sich die Stöpsel nicht lösen
konnten. Bald sah er wie ein verwundeter Soldat aus, der aus dem Lazarett
geflohen war.
»Kannst du etwas hören?«, fragte ich.
»Hat die Glocke schon angefangen zu
läuten?«, rief er so laut, dass Remus zusammenzuckte. Ich dankte Gott, dass wir
uns in der Abgeschiedenheit des höchsten Turms der Stadt befanden und niemand
unser Rufen hören würde.
»Tasso, jetzt bist du an der Reihe!«,
sagte ich. Nicolai kam auf die Füße und griff nach dem nächsten Glockenseil. Er
zog mit aller Kraft, hatte aber einen schlechten Moment erwischt.
»Nein«, schrie Remus. »Jetzt!«
Bald zogen sie im Einklang, und die
Glockenseile tanzten. Ich war mit Tasso fertig und kümmerte mich um Remus’
Ohren.
»Und dann mache ich deine«, sagte
Remus.
»Nicht nötig«, erwiderte ich.
»Was soll das heißen?«, fragte er. »Du
willst doch nicht taub werden!«
Ich hatte keine Zeit für Erklärungen.
»Meine Mutter«, sagte ich, »sie war eine Glocke.« Er sah verwirrt aus, aber unterdessen
hatte ich sein zweites Ohr zugestopft und wir konnten nicht mehr sprechen. Als
Remus seinen Platz einnahm, kam mir der Gedanke, dass es besser gewesen wäre,
meinen Plan ein letztes Mal mit ihnen durchzusprechen. Aber inzwischen reichte
das Schwingen der Glocke aus, um Tasso vom Boden zu heben. Remus setzte sich
mit jedem Zug hin und stand wieder auf, wenn die Glocke herumschwang und ihn in
die Höhe zog. Nicolai ergriff das Seil über seinem Kopf und zog es bis zur
Taille hinunter.
Wie lange würde es dauern, bis sie
läutete? Und dann – wie lange, bis jemand kam, um ihnen Einhalt zu gebieten? Es
kam entscheidend auf die Zeit an. Aber bevor ich ging, gab es trotzdem noch
etwas – etwas, das zu tun ich gelobt hatte.
Ich flitzte die Treppe hinauf, stürzte
mich in die Dunkelheit. Ich ertastete mir meinen Weg, bis ich in ihren
Glockenturm eindrang. Der Mond schien durch die offenen Seiten und warf
deutliche Schatten auf ihre Schärfe, als sie schwang. Ich kroch unter sie. Ihr
immer noch sanftes Schaukeln blies mir kalten Wind ins Gesicht. Ich schätzte,
dass es höchstens zehn Minuten dauern würde, bis sie zu schlagen begann.
Ich nahm das Messer aus meinem Gürtel
und zerschnitt das Leder, das den Klöppel umhüllte, um das mächtige Läuten zu
dämpfen. Ich riss Lederfetzen und die Polsterung aus Wolle ab. Es war eine
mühsame Arbeit, aber nach einigen Minuten hatte ich sie befreit. Heute Nacht
würde sie so läuten, wie es ihr bestimmt war.
Ich eilte die Stufen hinunter.
»Zieht weiter!«, schrie ich, als ich an meinen Freunden vorbeirannte, die alle
sanft in die Höhe gehoben wurden und dann wieder hinunterfielen, aber
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