Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
unzureichend
gekleidet auf der eiskalten Straße, bevor ich ganz wach und bei Sinnen war. Das
Schreien kam aus einem Haus in der Nähe. Durch ein erleuchtetes Fenster sah ich
eine Mutter mit einem Bündel auf dem Arm hin und her laufen. Die pochende Kälte
in meinen Füßen war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in meinem Herzen.
Viele Abende saßen wir stumm im
Wohnzimmer; Eisblumen wuchsen auf den Fensterscheiben und sperrten die Nacht
aus. Selbst Remus las kein Buch.
»Wir müssen ihn zurückholen!«, rief
Nicolai eines Nachts plötzlich wütend aus. Als Remus und ich nicht antworteten,
fuhr er in leiserem Tonfall fort: »Wir hätten ihn geliebt. Und das kann sie
nicht von sich behaupten.«
»Sei still, Nicolai«, warnte Remus. Er
sah auf mich, als fürchtete er, dass solche Reden ein neues Fieber hervorrufen
würden.
»Ich bin nicht still! Nicht, bis wir
das Richtige tun. Ich stelle eine Armee auf. Die Leute von der Straße werden
uns helfen. Wir brauchen nur hundert Mann.«
»Nicolai!«
»Remus!«, rief er zurück. »Bist du
etwa feige?«
»Hör bitte damit auf«, sagte ich zu
meinem Freund. »Ich danke dir für deinen Mut, Nicolai, aber es ist
aussichtslos. Du weißt, dass ich genauso denke wie du, aber das Haus ist eine
Festung, und die Soldaten der Kaiserin würden ihnen zu Hilfe kommen. Das Risiko
wäre viel zu groß – für uns und für das Kind.«
»Aber wir müssen es versuchen«,
beharrte er.
»Nein«, sagte ich fest. »Wir müssen
beten, dass er glücklich wird mit dem Geschick, das Gott für ihn gewählt hat.
Wir müssen ihn vergessen.«
Nicolai holte Luft wie ein wütender
Bär, aber er sagte nichts.
»Du musst mir schwören, dass du nie
wieder davon sprichst.«
Tränen stiegen ihm in die Augen. Seine
Lippen zitterten.
Aber er schwor den Eid.
Meine Freunde und ich stolperten
durchs Leben wie verzweifelte Schauspieler, denen das Textbuch abhandengekommen
ist. Eines Tages dann bekamen wir Besuch. Zwei Männer, die beide fast so groß
wie Nicolai waren, kamen die Treppe herauf und schoben sich ins Wohnzimmer. Ich
lag im Bett, aber ich hörte jedes Wort. Sie seien von ihrem Auftraggeber
geschickt worden, teilten sie Remus mit, um den »Schweizer Kastraten« an sein
Versprechen zu erinnern, Wien zu verlassen. Ich hörte Nicolais Sessel knarren,
als er sich erhob, um sie in ihre Schranken zu weisen, aber Remus trat schnell
dazwischen. Er sagte, er würde die Botschaft überbringen. »Er hat Zeit bis
Neujahr«, sagte einer der Männer. »Danach sehen wir uns gezwungen, ihn auf
seiner Reise zu begleiten.« Als sie fort waren, kam Remus in mein Zimmer und
wiederholte Guadagnis Botschaft. »Vielleicht ist es an der Zeit zu gehen«,
sagte Remus. »An der Zeit, neu anzufangen.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Die Kutsche steht bereit«, sagte er.
»Wir können nach Venedig aufbrechen, wann immer wir wollen.«
»Nach Venedig aufbrechen?«, fragte ich
entsetzt. »Wir haben die Kutsche doch für sie gebaut!«
»Moses, sie würde wollen, dass wir
gehen.«
»Das ist mir gleichgültig«, sagte ich.
»Sie ist tot und sie ist hier begraben, und ich will sie nicht noch einmal
verlieren. Ich gehe nicht aus Wien fort.«
Eine weitere Woche verging.
Tagsüber saßen Nicolai und ich in dem verdunkelten Zimmer. Und manchmal, wenn
wir beide nicht schlafen konnten, saßen wir in den frühen Morgenstunden
zusammen am offenen Fenster, hatten uns Decken gegen die Kälte des frühen
Winters umgelegt und starrten die leere Straße hinunter in Richtung Stadt.
Mein Freund versuchte, meine Trübsal
zu lindern, indem er mir Geschichten erzählte. »Ein Mönch«, sagte er einmal,
»hat mir erzählt, dass die Leute in Norwegen den Winter verschlafen wie Bären.
Sie schlafen monatelang.« An einem anderen Morgen: »Der Mond dreht sich so
schnell um die Erde, dass man nicht auf ihm stehen könnte. Wir würden
fortgeschleudert und von der Sonne verbrannt werden.« Oder: »Ich habe auf der
Straße hier einen Mann kennengelernt, der Kleider für die Kaiserin macht. Zehn
Männer brauchen ein ganzes Jahr, um ein einziges Kleid herzustellen, und sie
trägt jedes nur einmal.« Manchmal gelang es mir, ihn traurig anzulächeln, aber
ich sprach nur selten. Stundenlang saßen wir schweigend da. Aber allein seine
Gegenwart war ein Trost.
Eines frühen Morgens brach Nicolai
plötzlich diese Stille. »Moses, heute ist Weihnachten.« Die Nächte waren lang
um diese Jahreszeit, und deshalb war der Himmel noch immer tiefgrau,
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