Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
natürlich
gerne wissen, wer richtigliegt und wer falsch.«
Er piekte mit seinem dicken Finger in
mein Knie. »Mein Herz steht gegen seinen Kopf. Das würde er sagen, obwohl ich
ihn an deiner Stelle lieber nicht fragen würde.«
Eine Weile schwiegen wir, und Nicolai
summte einen italienischen Marsch. Er griff nach unten und schnappte sich einen
abgestorbenen Zweig, mit dem er auf das Dornengestrüpp einschlug, an dem wir
vorbeikamen. »Weißt du, Moses«, fuhr er plötzlich fort, »ich habe viel zu
verlieren. Ich liebe so viele Dinge. Zu viele, würde der Abt sagen. Stoße
etwas ab, würde er vorschlagen. Befreie dich von dieser Sünde . Aber genau das ist meine größte Angst, und sie hält mich jede Nacht wach.
Ich fürchte mich davor, am Morgen aufzuwachen und festzustellen, dass die Welt
dieselbe geblieben ist, aber all meine Liebe zu ihr verschwunden ist, und dann
zu erkennen, dass meine Liebe nur eine Krankheit war – Seelenpocken, könnte man
sagen.« Nicolai sah auf seinen Freund, der neben uns ritt. »Könnte das
passieren, Remus?« Remus antwortete nicht, und deshalb piekte Nicolai ihn mit
dem Stock in die Rippen.
»Ja, könnte es«, grummelte Remus.
»Wahrscheinlich gleich morgen.«
Nicolai hob seinen Stock, zögerte
einen Augenblick, und dann schlug er auf die Flanke des anderen Pferdes. Das
Pferd schoss nach vorn, Remus griff nach dem Sattelknopf und es gelang ihm mit Mühe,
im Sattel zu bleiben und sein Buch festzuhalten, damit es nicht in den Matsch
fiel. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um mein Lachen zu verbergen. Als
Remus wieder fest im Sattel saß, drehte er sich wütend zu Nicolai um, aber
dieser hielt eine Hand in die Höhe. »Du willst mich nur verletzen, Remus. Du
glaubst ja nicht mal selber, was du sagst.« Er ließ den Stock durch die Luft
sausen wie ein Schwert. Remus zuckte zusammen.
In diesem Augenblick erschien mir
Remus sehr hässlich, und ich wünschte, er würde ein Stück vor uns reiten. Ich
verstand nicht, was Nicolai sagte, aber ich hörte ihn gerne reden. Nicolai
hatte wohl bemerkt, dass ich ablehnend die Arme gekreuzt hatte, denn er legte
mir eine Hand auf die Schulter. »Lass dich von seinem Murren nicht in die Irre
führen«, sagte er. »Er ist nicht halb so böse, wie er dich glauben machen
will.« Und dann beugte er sich noch näher zu mir, damit der lesende Mönch seine
Worte nicht hörte. »Dieser Wolf glaubt genauso an die Liebe wie alle anderen.
Genauso fest wie ich. Das habe ich ihn flüstern hören. Auch ich habe die Worte
geflüstert. Eines Tages wirst auch du sie jemandem zuflüstern, wenn der Blitz
einschlägt und zwei Hälften zu einem Ganzen werden.«
Remus klappte sein Buch mit einem
Knall zu. Böse sah er Nicolai an. »Pass auf, wem du deine Geheimnisse
erzählst«, sagte er.
Nicolai wurde rot, aber dann zuckte er
die Achseln und ließ seinen Stock im Vorüberreiten an einem Baum zersplittern.
»Mach dir keine Sorgen, Remus«, sagte er. »Moses können wir unsere Geheimnisse
anvertrauen.«
VII.
Abt Coelestin Gugger von
Staudach erwies sich als ein kleiner Mann, dessen auffälligstes Merkmal eine
riesige Stirn war. Sie machte die Hälfte seines Gesichts aus, und hinter ihr
steckte mit Sicherheit ein immenses Gehirn. »Ein Bauernkind als Novize in
dieser Abtei?«, fragte er, als Nicolai erklärte, warum er mich in sein
Studierzimmer gebracht hatte. »Ein Waisenkind als Novize?«
Nicolai nickte eifrig. Remus sah auf
den polierten Eichenboden.
Hinter seinem langen Schreibtisch stand
der Abt auf. Wie Nicolai und Remus trug er eine schwarze Kutte, aber darüber
noch ein schwarzes Gewand mit Kapuze. Ein goldenes Kreuz leuchtete auf seiner
Brust, und als er auf mich zukam, starrte ich auf den roten Stein, der an
seinem Finger glitzerte. Ich wäre zurückgewichen, aber ich drückte mich bereits
an eine Wand. Er warf einen Blick auf meine nackten Füße, meine staubigen
Kleider, auf die Dreckflecken, die Nicolai mir nicht vom Gesicht gewaschen
hatte. Er schnüffelte.
»Ausgeschlossen«, sagte er.
»Er ist ruhig«, sagte Nicolai. »Er ist
… er ist klein.« Nicolai zeigte mit den Händen die Größe eines mittleren
Fisches an.
Der Abt starrte auf mich hinunter.
Sein Atem war flach und mechanisch wie der Blasebalg in einer Schmiede. Ein,
aus. Ein, aus. Bis jetzt hatte ich jeden Laut, den ich in dieser riesigen
unbekannten Welt gehört hatte – vom Knall der Musketenschüsse bis zum Singen
einer Frau am Fenster –, auf die unendliche Vielfalt der
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