Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
schien darauf abgerichtet zu sein,
Nicolais Pferd zu folgen. Mehrmals forderte Nicolai Remus dazu auf, laut
vorzulesen, und die Laute, die er von sich gab, waren wie Zaubersprüche in
einer Geheimsprache. Ich war froh, wenn Nicolai ihn nach ein, zwei Minuten
unterbrach und sagte: »Remus, das genügt. Moses und ich langweilen uns.«
Obgleich Nicolai liebevoll von der
Abtei sprach, beklagte er sich, dass ihre Reise zu Ende ging. An dem Tag, an
dem wir den Vierwaldstätter See hinter uns ließen und den Aufstieg in die Hügel
begannen, hielt Nicolai plötzlich die Pferde an. »Remus«, sagte er, »ich habe
es mir anders überlegt.«
»Bleib nicht so plötzlich stehen«,
sagte Remus, der nicht von seinem Buch aufsah. »Davon wird mir übel.«
Nicolai starrte auf den Horizont im
Süden, als hätte er dort etwas Beunruhigendes entdeckt. »Wir müssen umkehren«,
sagte er. »Ich möchte nämlich Venedig besuchen.«
Remus blickte uns scharf an. Der Name
dieser Stadt erschreckte ihn offensichtlich. »Dafür ist es zu spät, Nicolai.
Monate zu spät. Wir haben uns entschlossen, in die Abtei zurückzukehren.«
»Ich habe dir zu schnell nachgegeben.
Ich hätte dich dazu zwingen sollen.«
»Nicolai, reit weiter«, sagte Remus,
als spräche er mit einem Kind.
»Ich muss Venedig sehen, bevor ich
sterbe, Remus.« Nicolai schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel.
»Ein andermal.« Remus sah wieder in
sein Buch.
Nicolai ritt so nah heran, dass sein
Knie das von Remus berührte. Der lesende Mönch sah nicht auf, obwohl er schnell
sein Bein wegzog. In diesem Moment griff Nicolai zu und schnappte sich das
Buch.
Die beiden Mönche sahen sich in die
Augen. »Und wenn wir die Abtei für den Rest unseres Lebens nicht mehr
verlassen?«, fragte Nicolai.
Remus antwortete nicht. Er streckte
die Hand aus, bis Nicolai ihm das Buch zurückgab, das er sogleich öffnete. »Das
will ich doch hoffen«, sagte er und begann wieder zu lesen. Er ritt los, und
sein Pferd trottete an uns vorbei.
Nicolai rief ihm nach: »Du bist so
langweilig. Ich spreche von Venedig, Remus. Der schönsten Stadt der Welt. Und wir lassen
sie einfach aus.«
Remus sprach in sein Buch. »Es wird
bald dunkel.«
»Ich glaube, dort könnte ich Frieden
finden«, flüsterte Nicolai. Als ich aufsah, glaubte ich, der Riese würde gleich
weinen. Er sah auf mich herab und wir lächelten uns an. Aber ich komme mit, Nicolai!, sagte mein Gesicht. Das schien ihm Mut zu machen, denn er stieß unser Pferd
an und wir schlossen zu Remus auf.
»In Venedig wird alles anders sein.«
»Sei kein Dummkopf.« Raschelnd
blätterte Remus die Seite um. »Vierzig Jahre Mönch und immer noch betest du
Götzen an. Das ist doch nur ein Vorwand.«
»Dann bring mich dorthin – und ich
brauche keine Vorwände mehr. Ich höre auf, dich damit zu quälen.«
»Und dann findest du einen anderen
Grund, unzufrieden zu sein. Das tun alle.«
Nicolai hielt unser Pferd wieder an.
Er schüttelte den Kopf. »Nur du brauchst gar keinen Vorwand, um unglücklich zu
sein«, murmelte er.
Remus klappte sein Buch zu und sah
Nicolai über die Schulter an. Ich meinte ein Lächeln – einen Anflug von
Zuneigung – in dem mürrischen Blick zu entdecken, aber dann war es auch schon
wieder verschwunden. »Zögere nicht hinaus, was wir vor langer Zeit beschlossen
haben, Nicolai.«
Nicolai sah noch einen Augenblick
zurück, als könne er die Weggabelung nach Venedig sehen, das in Wirklichkeit
Hunderte von Meilen hinter uns auf der anderen Seite der Alpen lag, dann wandte
er sich seinem Zuhause zu und spornte sein Pferd an.
»Mein lieber Moses«, sagte Nicolai
an einem besonders schönen Morgen, kurz nachdem wir aufgebrochen waren, »es
gibt solche und solche Mönche. Ich bin ein Mönch. Unser Remus ist ein Mönch,
und Abt Choleriker von Staubdreck ist ein Mönch. Wir intonieren dieselben
Gesänge, wir beten dieselben Gebete und trinken denselben Wein. Wir sind vom
selben Fleisch, könnte man sagen.« Der Wald wechselte sich mit Weideland ab,
und wir ließen den riesigen, glitzernden See hinter uns und stiegen langsam
höher hinauf. Nicolai streckte die Hand aus und strich über die jungen Bäume am
Wegrand. »Also sollten sich unsere Seelen eigentlich gleichen, was, Moses? Aber
nein. Abt Staubdrecks Seele ist verschrumpelt und vertrocknet und meine ist
verfettet wie ein Schwein.« Er klopfte sich auf den runden Bauch. »Also muss
einer von uns auf dem falschen Weg sein, wie der Abt immer sagt. Aber man würde
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