Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Glocken meiner Mutter
zurückführen können. Aber ich war mir sicher, dass auch die Laute meines
Vaters, die der Fluss mit sich gerissen hatte, irgendwo aufgehoben waren. Als
ich den Atem dieses Mannes hörte, wusste ich sofort, was das für Töne waren.
In den letzten vier Tagen unserer
Reise waren wir durch das Land der Abtei geritten, denn die Abtei von Sankt
Gallen war die größte und reichste der Eidgenossenschaft. Ihr Abt war keinem
anderen Mann verantwortlich, hatte Nicolai mir erklärt und mit der Hand über
die Hügel gezeigt, weder Kaiser noch Volk. Als wir die Tore der
protestantischen Stadt passierten, von der die Abtei umgeben wurde wie die Nuss
von der Schale, schnappte ich nach Luft. Die Straßen waren breit und mit
gleichmäßigen Kopfsteinen gepflastert, die hohen Fachwerkhäuser waren strahlend
weiß. Die Männer und Frauen der Stadt waren groß und schön und stolz, trugen
Gewänder aus Wolle und Leinen mit Rüschen aus zartem Musselin. Aus jedem
Keller, jeder Gasse drangen Laute der Betriebsamkeit: das Knarren und Gleiten
des Webstuhls, das Klingeln von Silber- und Goldmünzen, das Klappern von Wagen,
die mit Ballen sonnengebleichten Leinens beladen waren. Als wir weiter in die
Stadt vordrangen, wurden die Häuser nur noch höher, majestätischer – weiße
Steingebilde wie die Felsen, die sich über der Kirche meiner Mutter erhoben.
Schließlich kamen wir drei an ein Tor,
das von zwei Soldaten bewacht wurde. Sie traten beim Anblick der beiden
zurückkehrenden Mönche zur Seite, und wir gelangten auf den ausgedehnten Platz
der Abtei. Nicolai streckte die Hand aus, um Remus leicht am Ellenbogen zu
berühren; nur zwei Finger und sein Daumen auf dem Stoff der Kutte des anderen.
Die Berührung dauerte einen Moment an, während die Männer ihr Zuhause nach zwei
Jahren zum ersten Mal wiedersahen. Aber dann drehte sich Remus um und bemerkte,
dass ich sie beobachtete.
Ruckartig zog er seinen Arm weg.
Der Platz war groß genug für
zehntausend Seelen. Die Flügel eines Gebäudes aus cremefarbenem Stein
begrenzten ihn an drei Seiten. Jeder einzelne war so groß wie ein Palast und
hatte unzählige Fenster, die alle so hoch waren wie die Tür von Karl Victors
Haus. In der Mitte des Platzes befand sich eine gewaltige Grube, in der zwei
Dutzend Männer Mauern aus massiven Steinblöcken errichteten. Nicolai berührte
meine Schulter und zeigte auf die Baugrube.
»Sieh mal, Moses«, sagte er. »Sie
haben angefangen – in wenigen Jahren wird das Europas schönste Kirche sein.«
Ich nickte, obwohl das riesige Loch
überhaupt nicht wie die Kirche aussah, die ich kannte. Nicolai nahm meine Hand
und führte mich auf den ausgedehnten Platz. Dieser
Palast muss von vollkommenen Geschöpfen bewohnt sein, dachte ich und hoffte, dass sie mir erlaubten, hier
draußen auf dem Gras zu schlafen.
Im Gemach des Abtes jedoch, als
dieser mich anfunkelte, verstand ich schließlich meine Stellung. Er war in der
Tat die Vollkommenheit in Person, und ich war nichts als ein Schandfleck, der
weggewischt werden musste.
»Das Waisenhaus in Rorschach«, sagte
er und nickte grunzend.
»Nein!«, sagte Nicolai, vermutlich
lauter als beabsichtigt. Remus zuckte zusammen. Der große Mönch trat einen
Schritt vor, und der Holzboden knarrte unter seinen schweren Füßen. Remus zog
warnend an seinem Ärmel, aber Nicolai schüttelte ihn ab.
»Er kann bei mir bleiben«, fuhr
Nicolai fort.
Der verärgerte Blick des Abtes
wanderte von meinem Gesicht zu Nicolais.
»In meiner Zelle. Er kann mein Diener
sein.«
Ich stellte mir vor, wie ich Nicolai
seinen Wein brachte, wie ich ihm die Schuhe anzog und seine Schulter rieb, wenn
er müde war. Für ein Zuhause an diesem prächtigen Ort würde ich all das und
mehr tun.
»Mönche haben keine Diener.«
»Vater Abt«, sagte Nicolai und
lächelte, als hätte der Abt einen Scherz gemacht. »Habt Ihr kein Herz?«
Der Abt warf mir einen weiteren
vorwurfsvollen Blick zu. Das ist alles deine Schuld, sagten seine Augen, alles –
deine tote Mutter, dein böser Vater, der Schmutz, den deine schwieligen Füße
auf meinem makellosen Fußboden hinterlassen . Und es tat mir wirklich leid; hätte ich den Mut gehabt zu sprechen, hätte
ich ihn für alles um Vergebung gebeten, und dann hätte ich ihn angefleht, mich
nicht fortzuschicken, weil Nicolai jetzt der einzige Mensch war, dem ich
vertraute, und ich wollte ihn nicht verlassen, wie ich meine Mutter hatte
verlassen müssen.
Aber natürlich sagte ich
Weitere Kostenlose Bücher