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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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tiefem Schrecken zurück. Er aber ergriff meinen Arm und umklammerte
mein Handgelenk so fest, dass ich wimmerte. »Ich würde meine Ohren dafür
geben!«, rief er. »Ich würde sie abschneiden und dich nie wieder singen hören,
wenn ich es nur hier drinnen hören könnte!« Er klopfte mir fest mit dem Finger
auf den Kopf, und ich fiel fast hinunter, aber er zog mich am Handgelenk zu
sich, bis ich an ihn gepresst war. Wieder spürte ich seinen Atem auf meiner
Wange. Er flüsterte mir ins Ohr. »Ich liege wach, Moses. Jede Nacht, seit du
gekommen bist. Es ist, als wärest du vor meinem Fenster, aber der Wind bläst,
und obwohl ich mich bemühe, dich zu hören, kann ich es nicht.«
    Er drückte seine Stirn an meine, seine
kalte Wange an meine Wärme. »Du hättest nicht kommen sollen«, flüsterte er.
    Er ließ meinen Arm los und schob mich
zurück, sodass ich stehen konnte. Er machte ein paar Schritte. Seine Finger
betasteten das Cembalo. Er schlug eine Note an.
    »Sing«, sagte er. Ich sang die
einzelne Note. Die Angst ließ sie klein werden.
    »Nein!«, rief er. »Sing!« Er knallte
seinen Finger auf die Taste.
    Ich atmete ein, und als ich ausatmete,
hörte ich meinen Atem in der Brust. Ich zwang sie nicht, sich zu öffnen, spürte
aber meinen nächsten Atemzug an die verschlossenen Stellen fließen, wie Ulrich
es mich gelehrt hatte, sodass auch sie offen waren. Meine Angst wich. Mit
meinem nächsten Ausatmen kam die Note – dieses Mal nicht laut, aber klar. Ich
sang, füllte den Raum mit meiner Stimme, bis mein Atem erschöpft war. Stille
trat ein.
    »Das Credo von heute«, sagte er und
spielte die Sopranmelodie aus dem dritten Satz. Ich sang.
    Plötzlich waren seine Hände wieder auf
mir – die Hände, die die Blüte streichelten. Auf meiner Brust, unter meinen
Armen, in meinem Kreuz, bis alle diese Teile mit dem Gesang vibrierten. Dann
schoben sich seine Hände in meinen Rücken und drückten meine Brust an sein Ohr.
    »Sing!«, befahl er. Ich spürte, wie
sich der Gesang in mir ausbreitete. Er brachte meine Knie zum Zittern.
    »Ja!«, keuchte er. Ich spürte, dass er
recht hatte, dass meine Stimme noch nie so strahlend geklungen hatte. Während
ich da stand und viele Minuten lang sang, hielt er seinen Kopf an meine Brust
wie ein Kind, das sich an den mütterlichen Busen schmiegt.

XI.
    Der Apostel Paulus hat
Schuld an den Chorknaben. Ohne sein Gebot mulier
taceat in ecclesia hätte die Welt diese
Bälger nicht nötig. Denn der Apostel Paulus hat zwar den Frauen befehlen
können, in seinen Kirchen still zu sein, die weibliche Stimme jedoch konnte er
nicht zum Schweigen bringen. Monate, bevor wir geboren werden, stimmen sich
unsere Ohren auf die Klänge unserer Mütter ein (wie sich meine auf die Glocken
meiner Mutter einstimmten), und deshalb brauchte die Kirche auf der Suche nach
vollkommener Schönheit einen Ersatz. Im Chor von Sankt Gallen war ich der beste
Ersatz, den es je gegeben hatte.
    Plötzlich schätzte mich der Abt, wie
er das Juwel in seinem Ring schätzte oder den reinen weißen Stein der
Zwillingstürme seiner neuen Kirche, die sich wie zwei unfertige Treppen in den
Himmel zu erheben begannen. Wenn er mich singen hörte oder sich einen Moment
Zeit nahm, um unserer Probe beizuwohnen, lächelte er gierig, als würde ein
Festmahl für ihn bereitet. Meine Wortkargheit war ein Kapital. Ich sprach nur
mit Nicolai, in dessen Zimmer ich mich versteckte, wann immer ich Ulrich und
dem Chor entkommen konnte, aber selbst dann hatte ich wenig mehr als Gemurmel
zu bieten. Wenn Nicolai mich fragte, wer mein Vater sei, zuckte ich die
Achseln. Wenn er mich nach meinem richtigen Namen fragte, sagte ich: »Moses.«
    Für die Liturgien und die meisten
Messen reichte der Gesang der Chormönche wie Nicolai völlig aus, um Staudachs
Herde dem Himmel näher zu bringen. Aber an Feiertagen oder zur Feier der
Ankunft heiliger Reliquien oder bei Messen zum Gedenken an ein großzügiges
Vermächtnis nahm der Abt Ulrichs Chor in Anspruch, und wir bewiesen unsere
liturgische Existenzberechtigung. Alles in allem sangen wir als ganzer Chor
etwa zwanzig Messen pro Jahr, und Abordnungen von uns wurden bei vielen
weiteren Gelegenheiten ausgesandt, um die kleineren Pfarreien auf den riesigen
Ländereien der Abtei zu beehren. Ulrich stellte mit erlesenem Geschmack unser
Repertoire zusammen, zu dem erhabene Messen von Cavalli, Charpentier,
Monteverdi, Vivaldi und Dufay gehörten. Bei unseren verstohlenen
mitternächtlichen Proben zog

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