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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Probe mit den erwachsenen Sängern und
Instrumentalbegleitung, die bis zum Abendessen dauerte. In all diesen Jahren
lernten wir weder Mathematik noch Französisch, und was ich von der Bibel und
von Gott weiß, habe ich nur in den täglichen Predigten gehört.
    In den ersten sechs Monaten nach
meinem Eintritt in den Chor gehörten Ulrich zwar meine Tage, aber er ließ mich
vom Abendbrot bis zum Frühstück in Ruhe. Aber als ich allmählich lernte, meine
Stimme zu kontrollieren, schenkte er mir immer größere Aufmerksamkeit. Wenn wir
aufgereiht vor unseren Übungsspiegeln standen, sah ich ihn immer in meinem
Spiegel; er stand direkt hinter mir, die Augen geschlossen, als wolle er den
Geruch meines Haares einfangen. Bald verging kaum ein Abend, an dem Ulrich
nicht vor der Tür zum Refektorium lauerte. Dann legte er mir fest eine Hand auf
die Schulter. »Moses«, sagte er, »da ist noch eine letzte Sache, die ich dir
zeigen möchte«, und führte mich zum Probenraum, wobei er die Hand nie von
meiner Schulter nahm. Ich hasste es, allein mit ihm zu sein – hasste seinen
Gestank, seine kalte Stimme, das Fehlen menschlicher Geräusche. Manchmal hätte
ich meine Zeit lieber mit einer Leiche verbracht, denn die hätte zumindest
nicht den Arm ausstrecken können, um mich zu berühren.
    Und doch, genauso wie ich im
Glockenturm gelernt hatte zu hören, lernte ich dort allein mit Ulrich im
Probenraum, meine Stimme zu beherrschen. Eine Ziege hätte singen lernen können,
wenn dieser Mann ihr seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte! Jenen, die sagen,
ich sei ein Genie, das aus dem Nichts aufgetaucht ist, weil mein Talent keine
Zeit zum Reifen gebraucht hatte – jenen antworte ich: Üben! Üben! Es gibt keinen
anderen Weg zur Größe.
    In den vielen Stunden mit Ulrich
erwarb ich meine Geschmeidigkeit, meine exakte Phrasierung, die präzise
Aussprache des Lateinischen. Er ließ nicht davon ab, mich zu berühren. Seine
eisigen Hände strichen mir über den Rücken oder streichelten meine Brust,
bewegten sich manchmal bis zu meinen Kniekehlen hinunter oder zu meinen
Schläfen hinauf. Es war die Art von Berührung, mit der man die Blütenblätter
einer Blume streicheln würde. Ulrichs Hand fand jene Stellen an mir, die noch
still waren – er erreichte die hartnäckigen Grenzen meines Schalls. Seine
Berührung kam mir vor wie Zauberei, denn die Stimme, die zunächst nur aus
meinem Hals kam, drang in wenigen Sekunden zu meinem Kiefer vor, und mit seinen
gelblichen Händen auf meiner Brust und meinem Rücken durchlief mich bald der
Gesang, als wäre ich eine Glocke. Die Hände forschten tiefer. Sie fanden noch
mehr Gesang, der sich in angespannten Schenkeln, in geballten Fäusten, sogar in
meinen Fußgewölben versteckte. Mein Körper war winzig, aber er machte ihn riesig
mit Gesang.
    Als er zum ersten Mal nachts kam,
tappte er in unser Zimmer, stolperte über ein Bett und bohrte seine Knie und
Ellenbogen in die Bäuche von schlafenden Jungen. Ich kroch unter meiner
Matratze hervor und spähte in den Raum – ein Maulwurf, der aus seinem Loch
kommt. Ulrich rüttelte Thomas. »Wo ist Moses?«, fragte er den Jungen, dessen
aufgerissene Augen einen Mörder erwarteten. »Es gibt etwas … ich muss …« Thomas
hob einen zitternden Finger und zeigte auf meine funkelnden Augen.
    Ulrich hievte mich auf seine Schulter
und trug mich aus dem Zimmer. Die Gänge waren dunkel, die Abtei schlief. Er
drückte mich gegen die Wand, und sein warmer Atem wie verfaultes Heu waberte
über mein Gesicht. Seine Nase streifte meine. »Ich habe es vergessen«,
flüsterte er, und ich hätte ihn für betrunken gehalten, wenn nicht alle gewusst
hätten, dass seine Lippen niemals Wein berührten. »Jetzt ist es wieder weg!«
    Er setzte mich ab, ergriff mein
Handgelenk und zog mich durch die Gänge. Beide machten wir leise
Geisterschritte.
    Der Probenraum war dunkel, aber er hob
mich wieder in die Höhe, und ich stellte fest, dass ich mit den Füßen auf dem
Hocker stand. Ich lauschte, hörte aber kein Geräusch von ihm. Ich betete, dass
er verschwunden wäre. Als er wieder sprach, verspürte ich ein Frösteln.
    »Es gibt taube Komponisten«, flüsterte
er aus der Dunkelheit. »Sie hören die Musik in ihren Köpfen. So schön in der
Taubheit wie im Leben, behaupten sie!«
    Ich streckte eine Hand aus, um die
Stimme zu lokalisieren, aber noch bevor mein Arm gerade war, traf meine Hand
auf sein Gesicht. Bei meiner Berührung sog er die Luft ein, und ich zog meine
Hand in

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