Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
meinem Bett zusammen und schlief ein,
während sich die Jungen Witze über stinkende Hunde erzählten.
Gleich am nächsten Tag stürzte Nicolai
mit neuen Kleidern und Schuhen für mich in den Probenraum. Ich wurde rot und
die Jungen kicherten, als er mich in der Ecke auszog. Aber wenigstens sah ich
jetzt genauso aus wie sie. So schien es mir, doch ich musste bald feststellen,
dass es andere Signale ihrer Überlegenheit gab, die so subtil waren, dass ich
sie nicht entschlüsseln konnte. Diese Söhne von Beamten und Webermeistern oder
Erben von großen Bauernhöfen hatten Väter, Onkel, Vettern mit Namen, bei denen
sich die anderen die Lippen leckten. Ihre Eltern brachten sie lediglich für ein
paar Jahre im Chor unter, weil sie hofften, dass der ständige Kontakt zu Gott
und jeder Menge Gold sie auf ihre Bestimmung als Großgrundbesitzer und
Landadlige vorbereiten würde. Und so kämpften sie beständig darum, eine Leiter
zu erklimmen, deren unteres Ende mein fester Platz war. Balthasar übertrumpfte
Thomas’ »Hund« mit »Schwein«. Der stolze Gerhard gab vor, mich nicht zu sehen,
grub aber seinen Hacken in meinen Fuß, wenn er an mir vorbeiging. Johannes, ein
blondes Engelsgesicht, sah, wie ich den Rosenkranz bewunderte, den Nicolai mir
geschenkt hatte. Er vergewisserte sich, dass die anderen dabeistanden, als er
ihn mir aus den Händen zerrte, die Schnur zerriss und die Perlen auf den Gang
kullern ließ. Hubert, ein hagerer, gelbhäutiger Junge mit tiefliegenden Augen,
der nicht singen konnte, aber dem Vernehmen nach der Reichste von allen war,
hatte ein teuflisches Gespür für Hänseleien. »Seht mal, da ist das Spielzeug
von dem Riesenmönch«, sagte er eines Abends, als ich den vollen Raum betrat.
Und dann zu mir: »Du möchtest sicher lieber in seinem Zimmer schlafen.« Ich wurde rot, obwohl ich die
Andeutung damals gar nicht verstand. Ich begann mich zu fürchten, in Begleitung
der Jungen an Nicolai vorbeizugehen. »Warum lächelt er dich immer an«, fragte
Feder dann ganz unschuldig. »Vielleicht solltest du ihn heute Abend, spät in der Nacht, in seinem
Zimmer besuchen.«
Und als ich anfing, mit Genuss zu
singen, flüsterte Feder mit den Jungen. »Ach, er möchte ja so gerne Sänger werden! Natürlich! Was
bleibt jemandem wie ihm sonst auch übrig?« Er wandte sich an mich. »Was hast du
gesagt, wer deine Eltern waren? Haben sie Schweine gehütet?« Zum ersten Mal in
meinem Leben schämte ich mich für meine Mutter – ich wusste, dass ein Schweinehirt
auf sie herabgesehen hätte. Ich befürchtete, dass Feder von irgendwoher mehr
wusste, als er zugab – sein grausames Lächeln verriet es mir. Er kam auf mich
zu, und obwohl ich zurückwich, legte er einen Arm um meinen Hals und drückte
mit jedem Wort fester zu. »Keine Sorge, mein Junge«, knurrte er. »In fünf
Jahren, wenn deine schöne Stimme rau geworden ist und dieser üble Mönch dich
nicht mehr als Spielzeug haben will, wird es immer noch genug Schweine geben,
die du hüten kannst.«
Wir standen um sechs auf, lange nach
den Mönchen. Nach dem Frühstück probten wir bis zur Messe, dann studierten wir
die Aussprache der lateinischen Texte, übten Buchstaben und absolvierten bis
mittags Übungen. Nach einer Mittagspause ließ Ulrich uns um das Cembalo herum auf
dem Boden sitzen und gab uns Blätter und Bleistiftstummel. Er griff in die
Tasten, und die Jungen sahen verständnislos zu ihm auf. Er erklärte den
Unterschied zwischen dem hypophrygischen und dem ionischen Modus oder lief hin
und her und schimpfte über das Konzil von Trient. Fast jeden Tag drückte er
einen einzigen Finger in die Tasten: »Das sind die Mönche«, sagte er dann.
»Tausend Jahre dasselbe: chromatisch, meistenteils monophon, ein paar
wagemutige Einsprengsel, eingeschmuggelt von den Genies.« Und dann schlug er
Akkorde an: »Jetzt ist alles anders. Das müsst ihr singen lernen – Polyphonie.
Klangfülle, Kontraste. Selbst wenn ihr nicht lernen könnt, es hier zu hören«,
er klopfte sich an den Kopf, »und die meisten von uns schaffen das nicht, müsst
ihr es verstehen oder ihr bleibt hirnlose Werkzeuge, so dumm wie das Cembalo.«
Dann spielte er meist etwas von Vivaldi und befahl uns, es aufzuschreiben, was
mir bald so leicht fiel wie anderen Kindern, ein Haus mit zwei Fenstern und
einer Tür zu zeichnen. Die anderen Jungen blickten mir über die Schulter und
schrieben haargenau ab, was ich notierte. Wenn Ulrichs Geduld zur Neige ging,
entließ er uns bis zu unserer
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