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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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mich die Treppen hinunter und
über einen Flur zum Probenraum, vor dem Ulrich schon auf uns wartete. Er bat
Nicolai, sich zu verabschieden, und Nicolai umarmte mich noch fester, dann
atmete er tief ein und setzte mich ab. Er biss sich auf die Unterlippe, nickte
und versuchte zu lächeln, dann drehte er sich um und eilte davon, ohne sich
noch einmal umzusehen.
    Es hatte noch keine Gelegenheit
gegeben, mir neue Kleidung zu besorgen, und deshalb trug ich immer noch die
einfachen Sachen, die Nicolai mir vor mehreren Wochen in Uri gekauft hatte.
Auch Schuhe besaß ich noch nicht. Als Ulrich die Tür öffnete, starrten mich
zwölf junge Augenpaare an.
    Ulrich erzählte diesen Jungen das
Wenige, was er von mir wusste – dass ich aus einem wilden Bergdorf kam, dass
ich eine außergewöhnliche, unausgebildete Stimme hatte, die eines Tages die
schönste sein könnte, die diesem Chor je angehört hatte. All dies sagte er, als
wäre ich eine Flasche guter Wein, die im Keller der Abtei gelagert werden
sollte.
    »Er ist jetzt euer Bruder«, sagte
Ulrich, »und bleibt es, solange ihr und er in diesem Chor seid. Helft ihm,
diese Welt zu verstehen, die ihm so fremd ist.«
    Die Jungen nickten ihrem Chormeister
zu. Ich betrachtete den Mann, der mich zuerst so abgestoßen hatte und dem ich
jetzt so dankbar war. Seit ich meine Mutter verloren hatte, war ich nicht mehr
so glücklich gewesen.
    Und dann wies Ulrich einen Jungen
namens Feder an, Übungen zum Einsingen mit uns zu machen. Ulrich schob mich ein
wenig auf die Jungen zu und verließ den Raum. Die Jungen gruppierten sich um
Feder. »Hallo«, sagte er zu mir. Er schien so alt wie ich zu sein, war aber
größer. Er lächelte.
    Ich nickte und erwiderte das Lächeln
von ganzem Herzen. Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund gehorchte mir nicht,
denn ich hatte zu viel Angst, dass ich in den Ohren meiner neuen Freunde dumm
klingen könnte.
    Feder kam auf mich zu, immer noch
lächelnd, bis er über mir stand. Ich reichte ihm nur bis zur Schulter. Dann
verschwand das Lächeln so plötzlich aus seinem Gesicht, dass ich überrascht
zusammenzuckte. Die Jungen hinter ihm lachten.
    »Du darfst mit uns singen – wenn du
kannst«, sagte er. Seine Augen waren genauso kalt wie seine Stimme. »Aber du
bist keiner von uns.« Er sah mir in die Augen, als suche er dort ein Zeichen,
dass ich ihn verstand, und ich enttäuschte ihn nicht. Tränen sammelten sich
darin, und ich versuchte, nicht zu blinzeln, aber dann tat ich es doch, und
zwei Tropfen rannen mir die Wangen hinunter. Die Jungen kicherten und riefen
ihm zu, er solle mich zu Boden werfen, aber das tat er nicht. Während meine
Tränen flossen, schnüffelte er und fragte: »Riechen alle in deiner Familie nach
Ziege?«
    Auf diese Weise kam mein Traum von
gleichaltrigen Freunden schon kurz, nachdem er entstanden war, zu einem Ende.
Aber ich beklagte mich nicht bei Nicolai oder sonst jemandem, denn was konnte
ich als Waise schon anderes erwarten? Um die Mittagszeit folgte ich den Jungen
in den Speisesaal. Ich erhielt einen Teller mit Essen und den größten, rötesten
Apfel, den ich je gesehen hatte. Aber dann tauchte Feder hinter mir auf, kniff
mich in den Arm und führte mich zu einem Stuhl, der zur Wand gedreht war. »Das
ist dein Platz«, flüsterte er mir ins Ohr. »Und das Essen ist ein Geschenk von
mir. Ein Geschenk von mir . Der Bauer, der das Essen verteilt – sein Vetter
arbeitet auf unserem Gut.« Feder zeigte auf die leere Wand. »Du siehst auf
diese Wand. Wenn du es wagst, dich umzudrehen und uns anzusehen, nehme ich dir
mein Geschenk wieder weg. Oder wenn du auch nur ein Wort zu meinen Freunden
sagst. Verstanden?« Er kniff mich so heftig in den Arm, dass ich beinahe meinen
Teller fallen ließ. »Und das hier«, sagte er und nahm mir den Apfel aus der
anderen Hand, »ist nicht für solche wie dich bestimmt.«
    Mein Bett war so weich und warm wie
die Umarmung meiner Mutter, und ich hätte wunderbar geschlafen, wenn man es mir
nur erlaubt hätte. Ich teilte das Zimmer mit fünf anderen Jungen, und obgleich
Feder nicht dazugehörte, wurden seine Befehle befolgt. »Was machst du da?«, fragte
der dicke Thomas, als ich am ersten Abend in meinem Bett lag. »Hunde schlafen
auf dem Fußboden.« Er trat mir mit dem Fuß gegen das Schienbein und gab mir
einen weiteren Tritt in den Hintern, als ich aus dem Bett kletterte. Niemand
protestierte, als ich verstohlen mit der Hand nach oben griff, um mir meine
Decke zu holen. Ich rollte mich unter

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