Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
die Geigen. Der kurze achte Satz beginnt
mit jenen eindringlichen Violinen, die Vivaldi so geschickt benutzt, um das Ohr
vorzubereiten. Sie beruhigten das Publikum und ermöglichten unseren beiden
grauen Geigern, sich einzugewöhnen. Dann begann mein Sopransolo: De Torrente .
Ich war ein winziger Junge, kaum halb
so groß wie der Mann, der ich jetzt bin. Der Chor stand gehorsam hinter mir.
Ich war nicht laut, aber meine Stimme füllte jede Ecke des Raumes. Mein Kinn
bebte, als ich jede Silbe auf Läufe von zwanzig Noten oder mehr ausdehnte. Dem
Publikum erschien es mühelos – meine Augen verspannten sich nie, meine
Schultern hoben sich nicht – aber von mir erforderte es die äußerste
Konzentration. Meine kleinen Arme zeigten nach unten und ein wenig nach vorn,
und ich fühlte mein Singen in jedem ausgestreckten Finger. Meine Lungen dehnten
sich, und obgleich meine Stimme nur zu einem Zehntel so voll war, wie sie es
eines Tages werden würde, war sie so klar wie die Bergluft um die Kirche meiner
Mutter. In der Kapelle der Dufts wurden Augen feucht. Amalia in der ersten
Reihe hatte Falten auf der Stirn, und ihre weißen Finger umklammerten die
Holzbank. Mein Gesang beherrschte jede ihrer Fasern.
Als ich aufhörte, trat Stille ein.
Feder stand erstarrt wie eine Statue neben mir. Ulrich starrte mit offenem
Mund. Er sah mich – wieder einmal – zum ersten Mal. Duft betrachtete immer noch
eingehend seinen Schuh.
Amalia saß still, nachdenklich und
gebannt, als hätte ihre Schlange plötzlich herrliche Flügel bekommen und wäre
vor ihren Augen davongeflogen.
XII.
Später saßen wir gedrängt in
einem Salon und schlemmten. Essen und Trinken waren unsere einzige Entlohnung für
das Singen (Abt Coelestin erhielt die seine natürlich nach spezieller
Vereinbarung). Es schien, als hätten mich alle vergessen, ausgenommen Ulrich,
den ich von Zeit zu Zeit dabei erwischte, wie er in mein Gesicht starrte und
sich vergeblich mühte, sich bei meinem Anblick die Erinnerung an meine Stimme
wachzurufen. Ich hielt eine Lammhaxe in der einen Hand, einen Hühnerflügel in
der anderen und riss an dem Fleisch, als hätte ich beschlossen, noch in dieser
Nacht auf volle Größe zu wachsen.
»Pst!«, hörte ich es flüstern. Niemand
sonst schien die Stimme zu hören. Ich drehte mich zur Tür um. Ein Auge spähte
herein. Außer Ulrich und Nicolai hatte niemand mich je sprechen wollen, also
ignorierte ich die Stimme und wandte mich wieder meinem Festschmaus zu.
»Pst! Mönch!« Ich drehte mich wieder
um, und dieses Mal sah ich, dass Amalia Duft ihren Kopf durch die Tür steckte.
»Komm her!«
Ich gehorchte, aber vorsichtig, denn
inzwischen wusste ich allzu gut, dass hinter einer freundlichen Annäherung oft
grausame Streiche steckten. Als ich die Tür erreichte, zog mich Amalia nach
draußen und schloss die Tür hinter uns. Sie trug einen weißen Hausmantel und
blickte mir verärgert ins Gesicht.
»Du bist eklig«, sagte sie.
Ich dachte: Warum
rufen alle Leute mich zu sich, nur um mich zu beleidigen?
Aber dann fiel mir ein, dass die
untere Hälfte meines Gesichts tatsächlich mit Lammsaft und Hühnerfett
verschmiert war. Ich wischte es mit meiner Chorrobe ab. Amalia stöhnte und
ergriff mein Handgelenk. Sie zog mich über den Korridor. In einem Badezimmer
wischte sie mir das Gesicht und die Hände mit einem weichen Handtuch ab und
warf es auf den Fußboden.
»Schnell«, sagte sie und zog an meinem
Ärmel. »Ich müsste eigentlich im Bett sein.«
Das Scheppern und Tröpfeln und
Schnattern des Hauses Duft schwoll an und ging wieder zurück, als sie mich
durch Korridore führte, in denen ich meinen Weg niemals allein gefunden hätte.
Wir rannten beinahe, und sie schwankte beim Hinken hin und her. Sie sah zu mir
zurück.
»Viele Leute fallen von Dächern«, sagte
sie. »Matthias von Grubber ist vom selben Dach gefallen wie ich, aber er
landete in einem Misthaufen. Ich bin auf einem Pflug gelandet. Karoline sagt,
dass Gott das getan hat, damit ich langsamer werde, aber ich bin nicht
langsamer geworden, und Gott gibt es sowieso nicht.«
Diese Bemerkung ließ mich schockiert
zurückweichen, aber sie zog nur umso heftiger an mir. Als ich immer noch nichts
sagte, schüttelte sie den Kopf. »Warum sprichst du nicht?«
Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, hätte ich gesagt, wenn ich den Mut dazu gehabt hätte.
Sie zuckte nur die Achseln und sprach
weiter. »Mir kann das nur recht sein. Ich hasse es, Leuten zuzuhören. Marie
hört
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