Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
einfach nicht mit dem Reden auf. Ich habe versucht, mir die Ohren mit
Wachs zuzustopfen, aber sie hat gebrüllt, nur damit ich sie höre. Du dagegen
sollst natürlich nicht still sein, aber trotzdem musst du nicht sprechen.«
Niemand hatte je so viele Worte an
mich gerichtet, von Nicolai und Ulrich einmal abgesehen. Es war alles sehr
verdächtig. Ich würde den Rückweg niemals finden, wenn sie mich allein ließ
oder – schlimmer noch – mich zu einem Rudel ihrer abscheulichen Freunde führte.
Wir waren eine ganze Weile an keinem Fenster mehr vorbeigekommen, und die
Geräusche aus den Wänden wurden schwächer und schwächer. Ich nahm an, dass wir
einen unbewohnten Flügel des Hauses Duft betreten hatten.
Schließlich verlangsamte sie ihren
Schritt. Am Ende eines langen Ganges stand ein Tisch und dahinter war eine
Flügeltür. Ein alter Mann saß an dem Tisch und hatte die Augen halb
geschlossen. Vor ihm auf dem Tisch waren eine Kerze, ein Federkiel, Papier und
eine Silberuhr sorgfältig arrangiert.
»Fräulein Duft«, deklamierte er, als
wir herankamen. Er schrieb etwas auf das Papier. Ich warf einen heimlichen
Blick darauf und sah, dass er ihren Namen gekritzelt hatte.
»Wenn Ihr meinem Vater nicht sagt,
dass wir hier waren, Peter«, sagte sie, »bringe ich Euch eine Zigarre.«
Er schrieb weiter.
»Zwei Zigarren.«
Er schüttelte den Kopf. »Akkurate
Aufzeichnungen.«
Ich blickte auf das Blatt, das vor ihm
lag. Eine ordentliche Tabelle, geteilt in zwei Spalten:
Ereignis
Zeit
Husten (trocken)
20.02 (Dauer: 45 Sekunden)
Husten (befreiend) 20.08
(Dauer: 2 Sekunden)
Schwester Blatt betritt den Raum
20.14
Fenster wird geöffnet
(Schwester Blatt)
20.15
Fenster wird geschlossen
(Schwester Blatt)
20.18
Blase nach Aufforderung
entleert
Farbe: xanthogen; Menge: 1/6
Maß
20.20
Husten (trocken)
20.22
(Dauer: 31 Sekunden)
Schwester Blatt geht
20.25
Besuch (Fräulein Duft)
20.32
Während ich diese Liste las, ertönte hinter der
Flügeltür ein trockenes Husten. Peter sah auf die Uhr. Amalia stöhnte und griff
nach dem Türknauf.
»Nicht unterbrechen!«, befahl er und
legte sein Ohr auf die Seite. Als das Husten aufhörte, sah er noch einmal auf
die Uhr. Er schrieb: »Husten (trocken): 20.34 (Dauer: 24 Sekunden).«
»Wir gehen hinein«, sagte Amalia. Auf
dem Tisch lagen schwarze Streifen aus Seide, und sie nahm zwei davon.
Plötzlich war es mit Peters Lethargie
vorbei. Er schien sich in einen edlen Ritter verwandelt zu haben, als er aufsprang
und meinen Arm umklammerte. »Nein!«, sagte er schockiert. »Er nicht!«
»Ich lasse ihn ein«, sagte Amalia.
Peter sah sie erstaunt an. Er zog mich
zu sich heran, sodass ich seinen Atem roch, der nach saurem Wein stank. »Sie
kann niemanden einlassen«, flüsterte er.
Amalia stampfte mit ihrem guten Fuß
auf. »Wir gehen hinein.«
Der alte Mann zog mich noch näher
heran. Ich versuchte, mich ihm zu entwinden, aber sein Griff war zu stark. »Geh
nicht hinein«, zischte er mir ins Ohr.
Amalia griff nach meinem anderen
Handgelenk. »Hör nicht auf ihn. Vater wird sich freuen.«
»Freuen!«, sagte Peter. »Freuen, wenn
das Experiment gestört wird? Wie soll Frau Duft jemals wieder gesund werden?
Das möchte ich gerne wissen, Fräulein Duft.«
Während sie beide an meinen Armen zogen,
sah ich zwischen seiner Grimasse und ihrem wütenden Gesicht hin und her.
»Gib ihm einen Fußtritt«, flüsterte
sie.
Das tat ich. Ich trat ihm gegen den
Fußknöchel, und er schrie auf und ließ mein Handgelenk los. Er hüpfte auf einem
Bein auf und nieder und rieb seinen Fuß. Reue überkam mich und ich hätte ihm
beim Reiben geholfen, wenn nicht Amalia die Tür aufgestoßen und mich in den
Raum geschoben hätte.
»Ich hole Herrn Duft!«, rief Peter.
Aber Amalia schloss die Tür, und wir waren allein in dem dunklen Zimmer.
Nun, nicht ganz allein – da war noch
jemand. Eine Frau, wie ich schnell erkannte. Sie hatte gehustet und jetzt
atmete sie abgerissen, holte mühsam Luft, die ihr Inneres anfüllte, bis sie
wieder aus den Lungen wich, als hätte man hineingestochen. Auf einem Tisch
stand eine dünne Kerze, aber außerhalb ihres Lichtscheins konnten meine Augen
nichts erkennen. Die Geräusche des Hauses Duft waren hier nicht zu hören. Ich
hörte weder das Scheppern noch das Flüstern der Wände noch die Stadt oder den
Nachtwind im Freien.
Ich zuckte zusammen, als Amalia einen
Seidenstreifen über mein Gesicht legte und
Weitere Kostenlose Bücher