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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Arm zu stechen, auch flüsterte er mir nicht
zu, dass der Abt Nicolai wegen seiner unzüchtigen Vergehen eingesperrt hätte.
Beides geschah regelmäßig während der Proben. Jetzt, da die Kapelle mit dem
besten Sankt Gallener Blut gefüllt war, lächelte er wie ein Engel und gab durch
nichts zu erkennen, dass er mich verachtete.
    Gerade als wir beginnen wollten,
öffnete sich die Tür am hinteren Ende der Kapelle, und der Herr des Hauses trat
ein, Willibald Duft. Der Leiter des Textilimperiums Duft
und Söhne war nicht nur dünn, er war auch
klein, und so bot er inmitten der rundlichen Männer in der Kapelle eine
jungenhafte Erscheinung. Er blieb nicht stehen, um sich zu bekreuzigen, sondern
tauchte nur den Finger in das Weihwasserbecken und zog einen Kreis durch die
Luft, wobei das heilige Wasser auf den Boden spritzte. Seine linke Hand hielt
die – jetzt saubere – Hand seines einzigen Kindes, Amalia Duft, der
Schlangenküsserin. Sie hinkte neben ihm her.
    Sie setzten sich neben eine Frau in
der ersten Bank, die eine unattraktive Kombination aus langen, hohlen Wangen,
schmalen Schultern und breiten Hüften besaß, sodass sie wie eine schlaffe,
fleischige Pyramide wirkte. Amalia saß zwischen den beiden Erwachsenen.
Irrtümlich hielt ich die birnenförmige Frau für Amalias Mutter und Willibalds
Frau; in Wirklichkeit war sie, wie ich später erfuhr, Dufts unverheiratete
Schwester Karoline Duft, die Hauptquelle der Frömmigkeit im Hause und
Initiatorin dieses speziellen Gottesdienstes.
    Während der ersten beiden Sätze
beobachtete ich die drei. Die Tenöre und die Altisten kämpften miteinander und
mit den Geigen und dem Cembalo um die Einnahme der Kapelle, wobei sie
übertriebene Lautstärke und eine kaum wahrnehmbare Dehnung ihrer Noten als
Waffen benutzten. Aber die Zuhörer bemerkten den Krieg gar nicht, der Lärm
schwächte lediglich ihre Aufmerksamkeit. Einige lächelten verständnislos.
Andere trugen einen dämlichen Ausdruck vorgetäuschter Erfüllung im Gesicht.
Mehrere Gläubige schliefen ein. Duft stierte auf seine Schuhe. Neben ihm
zappelte Amalia lustlos mit den Füßen und unternahm gar nicht erst den Versuch,
ihren gelangweilten Gesichtsausdruck zu verbergen. Karoline Duft hingegen hätte
allem Anschein nach nicht glücklicher sein können, wäre der Virtuose Vivaldi
von den Toten auferstanden und hätte persönlich seine Violine in die Hand
genommen. Sie schloss die Augen und wiegte sich zu einem Rhythmus, der nichts
mit der dargebotenen Musik zu tun hatte. Kurz fragte ich mich: Ist sie taub?
    Der dritte Satz dieses Dixit Dominus besteht aus
zwei Minuten des schönsten Kontrapunkts, den Vivaldi je für zwei Soprane
geschrieben hat. Er passte vollkommen zu den Stimmen von Feder und mir, die
noch nicht strahlend und voll, aber leicht und schnell waren. Ich genoss es,
die Reaktion des Publikums zu beobachten, wenn Feder begann: Virgam virtutis tuae, und ich
die Phrase Sekunden später wiederholte. Dieser einzige Moment genügte schon, um
die Zuhörer aus ihrer Trägheit zu reißen.
    Wir sangen eine weitere Phrase
einstimmig, bevor Vivaldi uns trennte. Dann waren wir wie zwei tanzende
Spatzen: Wir stiegen im Gleichklang nach oben. Wir brachen auseinander, aber
einen Augenblick später wurde die Einheit wieder aufgenommen und wir stiegen
noch einmal zusammen in die Höhe. Feders Stimme war so flink, dass es manchmal
schien, als würde sie mir davoneilen. Aber für einen Augenblick waren wir
Brüder, und ich wünschte fast, ich könnte meine Hände ausstrecken und ihn
umarmen, während wir sangen.
    Die Menschen in der Kapelle beugten
sich vor und erhoben sich ein wenig auf ihren Sitzen; die Kirchenbänke knarrten
unter ihnen. Duft streckte lediglich einen Fuß aus, um ein wenig Schmutz vom
anderen zu wischen, und gähnte, als hörte er die Musik gar nicht. Aber Amalia
hörte zu. Sie starrte mich an – und in ihrem Bauch war ein kleines Läuten.
    Der Satz endete, und zum ersten Mal,
seit wir die Kapelle betreten hatten, herrschte vollkommene Stille. Kein
Scharren mit den Füßen, kein Husten. Kein Flüstern oder Gemecker. Einige Leute
keuchten ein wenig beim Ausatmen, und ihre Unterkiefer hingen schlaff herab.
    Die Musik ging weiter. Die nächsten
beiden Sätze brachten weitere Kämpfe zwischen Tenören, Bässen, Geigen und
Cembalo, als die kriegführenden Parteien ihre Bemühungen mit frischer Kraft
wieder aufnahmen. Dann die Passage für Kornett und Orgel, kraftlos
umgeschrieben für unser Cembalo und

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