Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
an, und deshalb schien es,
als hielte ich ihren Hals in meinen eigenen warmen Händen. Zum ersten Mal
empfand ich den Wunsch, meine Stimme in ihr zu erkennen, wie der Maler, der
sich in sein Sujet verliebt, wenn er die Kraft seines Pinselstrichs spürt.
Das Gloria ist für einen Chor geschrieben, und in Ermangelung
anderer Stimmen wiederholte ich mich selbst, tauchte in die schönsten Noten des
Alts ein oder erfand Übergänge, die es nicht gab. Hin und wieder war ich still,
und wir hörten nur unseren Atem: Amalias war leicht und frei, meiner begierig
nach Luft und Frau Dufts voller Schmerzen.
Ich hörte erst auf, als wir Schritte
auf dem Gang hörten.
XIII.
»Keine Bewegung!«, rief
Willibald Duft, als er in den Raum gerannt kam und sich hektisch eine der
Holzkohlemasken um den Kopf band. Er blieb stehen – offensichtlich war er ein
wenig enttäuscht, als er feststellte, dass der Eindringling noch nicht einmal vier
Fuß maß. Amalia kniff mir in den Ellenbogen, und dankbar glitt ich hinter sie.
Dufts Gesichtsfarbe schwächte sich langsam von Violett zu Rot ab, und durch die
Maske hindurch holte er tief Luft. Er sah wütend an seiner Tochter vorbei auf
mich, und dann ging er so vorsichtig zu seiner Frau, dass man denken mochte, er
wollte die Luft in ihrer Umgebung nicht aufwühlen.
Er berührte ihre Wange mit dem
Handrücken. »Ist alles in Ordnung, meine Liebe?«
»Mir geht es gut, Willibald.«
Etwas beruhigt wandte er sich an mich.
Seine Augen verengten sich. »Weißt du, was du getan hast?«
Ich schüttelte den Kopf und hoffte, er
würde mich nicht schlagen.
»Du hast die Wissenschaft gestört«,
sagte er. Ich sah mich im Raum um und versuchte, die Wissenschaft zu entdecken,
die irgendwo in den Schatten lauern musste.
Wieder hörte man Schritte über den
Korridor schlurfen. Wir sahen den gebeugten Peter, der sich zur Tür mühte, das
Gesicht ebenso rot wie das von Duft.
»Halt!«, brüllte Duft.
Peter blieb kurz vor der Schwelle
stehen und vermied so in letzter Sekunde, seinerseits die Wissenschaft zu
stören.
»Vater«, sagte Amalia. »Wir haben
nichts getan …«
» Nichts getan?«, rief Duft. Dann warf er einen schnellen Blick
auf seine Frau und senkte die Stimme. »Du kannst nicht nichts tun! Sobald du hier
auch nur atmest, tust du etwas! Etwas Unbekanntes. Vielleicht etwas Unergründliches .« Er wedelte
mit den Händen, kreuzte sie dann aber unterwürfig vor der Brust, als hätten ihn
die unfassbaren Konsequenzen ihrer Bewegung zutiefst erschreckt.
Amalia sah stolz an ihrem Vater
vorbei. Selbst unter der Maske sah ich die Wölbung ihrer Unterlippe, die
trotzig vorgeschoben war.
»Amalia, hör mir zu«, sagte Duft matt.
Er nahm die Hand seiner Frau. Seine Tochter widerstand weiterhin seinem Blick.
Die Kerze glitzerte in seinen Augen, und erstaunt stellte ich fest, dass sich
diese mit Tränen füllten. »Ich versuche, das hier zu verstehen, Amalia.«
»Willibald«, sagte eine besänftigende
Stimme aus dem Bett, »sie wollte doch nur …«
»Herr«, rief Peter aus dem Flur, »was
ist mit den Aufzeichnungen?«
Willibald sah zur Tür. Er nickte.
»Gut, Peter«, sagte er über meinen Kopf hinweg. »Die Aufzeichnungen haben
Vorrang.«
»Der Junge hat einfach nur gesungen«,
sagte Frau Duft. Sie musste husten. Duft sah sie entsetzt an.
Hinter mir hörte ich Peter murmeln: »…
acht … neun … zehn …«, und dann das Kratzen einer Feder auf Pergament, als sie
zu husten aufhörte.
»Gesungen!«, stieß Willibald aus, als
die Episode des Hustens sicher verzeichnet war. Er sah zu mir hinunter. Ich
wusste von Feder und den anderen Jungen, dass Singen albern oder sogar
schimpflich sein konnte. Aber zum ersten Mal im Leben kam mir der Gedanke, dass
das Singen so gefährlich sein konnte wie Sprechen. »Gesang haben wir noch nie
gehabt. Was, wenn es ihrem Herzen geschadet hat?« Duft funkelte mich an. Ich
schlüpfte hinter Amalia und drückte mich leicht an ihren Rücken.
»Es hat mir nicht geschadet«, sagte
Frau Duft, so laut es ihr möglich war. »Es war schön.«
Ich wäre am liebsten ins Bett
geklettert und hätte mich in ihre Arme geschmiegt.
»Ich schreibe ›Störung (Gesang:
mögliche Herzschädigung)‹«, lautete der Bericht aus dem Flur.
Amalia atmete laut durch die Nase aus.
»Würde bitte jemand die Tür
schließen?«, sagte Frau Duft.
Amalia kam der Bitte schnell nach. Ich
wäre ihr gerne gefolgt, denn sie ließ mich ungeschützt zurück. Aber Willibald
griff nicht an; er
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