Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
zusammenband. Er roch nach
Holzkohle.
    »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Wir
müssen sie tragen, damit wir nicht krank werden. Man wird krank, wenn man
dieselbe Luft atmet wie kranke Leute. Mutter ist krank.«
    Also war das Frau Duft auf der anderen Seite des Raumes. Das machte
mir Angst, und ich war froh, als Amalia meine Hand nahm. Ihre Hand war weicher
als jede andere, die ich je berührt hatte.
    Als sich meine Augen an das Licht
gewöhnt hatten, sah ich ein übergroßes Bett. Es war so überladen mit Decken und
Kissen, dass ich ohne das Geräusch des Atmens nicht gewusst hätte, ob nun eine
Person oder fünf in ihm lagen. Mit der Kerze hinter uns warfen Amalia und ich
einen Riesenschatten an die Wand. Ich umklammerte fest ihre Hand.
    »Mutter!«, flüsterte Amalia. »Mutter,
wach auf!« Sie führte mich auf das Bett zu. Ich sperrte mich, aber sie war
stärker und entschlossener.
    Die Decken auf dem Bett öffneten sich
einen Spaltbreit. Eine knochige Hand kam hervorgekrochen. Die Finger waren dünn
und weiß. Amalia ergriff die Hand, sodass das Mädchen zu einer Verbindung
zwischen uns wurde.
    »Amalia«, flüsterte es kehlig. »Was
machst du hier? Es ist spät.« In einem dunklen Loch in den Decken machte ich
das Glänzen von zwei Augen aus.
    »Ich habe dir Besuch mitgebracht,
Mutter. Einen Sänger.« Amalia zog mich einen Schritt näher. Ich beobachtete
sie, unsicher, was ich tun sollte. Sie drückte meine Hand und nickte. »In
Ordnung«, flüsterte sie. »Sing.«
    Ich war in einem Kirchenchor
ausgebildet worden. Wir sangen sakrale Musik an sakralen Orten. Obwohl man uns
für private Gottesdienste mieten konnte, öffneten wir unseren Mund nie zum
Singen, wenn nicht ein Altar nahe genug war, um eine Bibel darauf zu werfen.
Ich war kein Spielmann und auch kein Medizinmann, der Gesänge kannte, um
Krankheiten zu heilen.
    Und deshalb sang ich nicht.
    »Bitte«, sagte Amalia. Sie drückte
meine Hand und legte sie an ihr pochendes Herz. »Wir haben nicht viel Zeit.
Mein Vater kommt gleich.«
    Das schien eher ein Grund zu sein
davonzulaufen als zu singen. Plötzlich hatte ich Angst vor diesem Mädchen, das
Schlangen küsste und behauptete, dass es keinen Gott gebe. Ich versuchte, ihre
Hand abzuschütteln. Ich hatte mich fast schon befreit – sie umklammerte mit
ihrer Faust nur noch meinen Zeigefinger –, als die Decken sich bewegten.
    Da sah ich Frau Dufts Gesicht im
Licht.
    Es mag unmöglich erscheinen, aber ich
sah meine Mutter. Einen Augenblick lang war ich sicher, dass sie sich unter
diesen Laken verbarg, und ich schrie beinahe auf vor Freude. Dann erinnerte ich
mich daran, dass das Gesicht meiner Mutter verdreckt war, und dieses Gesicht,
das Frau Duft gehörte, war sauber und blass. Die Haut meiner Mutter war hart
wie gegerbtes Leder, und die Haut von Frau Duft war wie zarter, gespannter
Musselin. Das Haar meiner Mutter war zerzaust und wild, und Frau Dufts Haar war
sorgfältig gewaschen und hinter dem Kopf zusammengebunden. Meine Mutter war
stark. Frau Duft war schwach. Aber in diesen eingesunkenen Augen, in dieser
straffen Unterlippe, die vor Anstrengung zitterte, gab es ein Echo der Wärme,
die ich nur in meinen Erinnerungen an den Glockenturm spüren konnte. In diesem
Augenblick hätte ich Gott versprochen, meinen Mund für immer zu verschließen,
wenn meine Mutter mich nur einmal hätte singen hören können.
    Und so sang ich für Frau Duft. Ich
sang einen Teil des Gloria aus Palestrinas Missa Papae
Marcelli, dem Werk, das mich vor fast zwei
Jahren aus Nicolais Zimmer gelockt hatte. Ich hatte noch nie in einem so
kleinen Raum gesungen; die Möbel und Decken und Vorhänge verschluckten meine
Stimme. Mein Atem raunte durch die Holzkohlemaske und kitzelte meine Nase. Ich
hörte auf die leise Resonanz meiner Stimme in den Körpern meiner beiden
Zuhörerinnen. In Frau Dufts knochiger Gestalt hörte ich nur das schwächste
Flüstern. Aber Amalia, die immer noch meine Hand drückte, hatte die Gabe jener
Menschen, die ohne Ohren hören können. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ihre
Augen waren geschlossen. Sie zog die Schultern zurück. Wie in einem
Kristallkelch, dessen Rand man mit einem nassen Finger umfährt, stieg in ihr
allmählich ein zartes Klingen auf – meine Stimme, die in den Muskeln ihres
Halses und dem oberen Teil ihres Rückens vibrierte. Hätte meine Mutter meine
Stimme auf diese Weise auch hören können?
    Während sich Amalia so auf meinen
Gesang einstimmte, passte ich ihr meine Stimmlage

Weitere Kostenlose Bücher