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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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niemals auch nur einen Gulden in der Hand gehalten. Ich wollte
genau wie Remus wissen, wie Schönheit eine halbe Million wert sein konnte.
    Nicolai holte tief Luft und stellte
sein Glas ab. »Remus«, sagte er. »Moses. Glaubt nicht, dass ich diesen Mann
mag. Das tue ich nicht. Ich verabscheue ihn. Er ist wie Wein, der zehn Jahre zu
spät getrunken wird. Aber mit dieser Kirche macht er das Richtige. Habt ihr sie
nicht gesehen?« Nicolai zeigte durch das Fenster, wo die weiße Kirche selbst im
schwachen Mondschein leuchtete, als würden Kerzen in ihrem Stein brennen. »Es
ist Gottes Werk, das er tut, und auch wenn Staudach vielleicht ein Narr ist,
was seine Mitmenschen betrifft, versteht er Gott ziemlich gut.« Nicolais Gesicht
war glatt und fröhlich, als hätte er einen Engel über der Kirche schweben
sehen. »Gott ist schön. Er ist vollkommen. Und er inspiriert uns, ebenfalls
schön und vollkommen zu sein. Das sind wir natürlich nicht. Aber gerade darum
brauchen wir Schönheit in unserem Leben: um uns daran zu erinnern, wie gut wir
sein könnten. Deshalb psalmodieren wir Mönche. Deshalb singt Moses. Und deshalb
baut Staudach uns eine vollkommene Kirche. Denn wenn wir mit unseren Augen und
unseren Ohren vollkommene Schönheit erkennen, und sei es nur für eine Sekunde,
kommen wir der Perfektion selbst ein ganz klein wenig näher.« Als Nicolai
endete, legte er eine Hand auf sein Herz und nickte abschließend, um seine
Predigt zu bekräftigen. Ich stellte fest, dass ich zur Erwiderung zurücknickte,
denn mein größter Wunsch war es, wie diese schöne Musik zu sein, die ich sang,
wie diese vollkommene Kirche, die sich aus einfachen Steinblöcken in die Höhe
schwang.
    »Was für ein Blödsinn«, sagte Remus.
Er funkelte uns beide an und nahm sein Buch wieder auf. »Eine halbe Million
Gulden.«
    Aber Nicolai hatte mich
angesteckt. Würde diese Kirche mich rein machen? Mit nervöser Sehnsucht sah ich
zu, wie sie Monat um Monat wuchs – wie die Türme fertig wurden und das Dach mit
roten Ziegeln gedeckt wurde. Dann war sie fast vollendet, und die Kunde von
ihrer Einweihung durchdrang die Abtei wie das Versprechen eines Wunders.
Tausende würden zu dem Ereignis kommen, aus der Eidgenossenschaft und aus
Österreich. Staudach würde uns mit einer Morgenmesse segnen. Dann würden wir in
einer Prozession über die Ländereien der Abtei ziehen, bevor wir zurückkamen,
um der symbolischen Vollendung der Kirche beizuwohnen: der Rückkehr der
heiligen Reliquien in die Krypta. Und wenn dann der Kopf des heiligen Otmar,
das Haar des heiligen Erasmus, die Rippen des heiligen Hyazinth und viele
andere Haar- und Knochenreste wieder zur Ruhe gebettet waren, würde der Tag mit
einem Lobgesang gekrönt werden: Charpentiers großartiges Te Deum . Ulrich hatte in
Innsbruck um vier berühmte Solisten für die anspruchsvollen Partien ersucht.
Ich sollte im Chor singen.
    Aber dann las Staudach Ulrichs Brief
an den Kapellmeister in Innsbruck und entdeckte, dass Ulrich einen Falsettisten
für den Mezzosopran und einen Musico für den Sopran einplante. Staudach stürmte
eines Abends in den Probenraum, als ich allein mit Ulrich übte. Der Chormeister
hielt mich im Arm, hatte seinen Kopf an meine Brust gelegt und strich über die
Höhlungen unter meinen Ohren. Als Staudach lärmend die Tür öffnete und eintrat,
wich er zurück und ich purzelte von meinem Hocker.
    »Ihr meint doch nicht etwa einen
Kastraten? Einen Halbmann?«, bellte Staudach und wedelte mit Ulrichs Brief, als
wäre er ein Todesurteil.
    Ulrich seufzte, aber offensichtlich
war er auf diese Diskussion vorbereitet. »Doch, Abt. Genau das ist ein Musico.
Ein Kastrat. Ein evirato .« Ulrich nickte mir zu, als wolle er meine Zustimmung
erhalten, aber ich riss nur die Augen auf, als ich versuchte, mir dieses
geheimnisvolle Wesen vorzustellen, das er da beschrieb.
    »In meiner Kirche?«, stammelte der
Abt. »Bei ihrer Einweihung?«
    »Sie singen in der Sixtinischen
Kapelle, Abt.«
    Staudachs Gesicht war tiefrot
angelaufen. »Diese Kirche«, sagte er langsam, » meine Kirche ist nicht die Sixtinische Kapelle, Bruder
Ulrich.«
    Wieder sah Ulrich auf mich, als wolle
er meine Meinung in dieser Frage einholen. Ich duckte mich, weil ich der
Aufmerksamkeit des Abtes entgehen wollte.
    »Dann könnte ich ebenso gut vor einem
halben Altar predigen«, sagte Staudach und wedelte wieder mit dem Brief. »Nur
das halbe Dach fertigstellen. Die Hälfte der Kirchenbänke weglassen. Ein halber
Mann

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