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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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möchtest du eines Tages mit mir in diese Stadt reisen?
Würdest du gerne für Herzog Karl Eugen singen?« Als seine Rede endete, waren
seine Lippen nicht weit von meinen entfernt. Ich schauderte bei dem Gedanken,
mit ihm wohin auch immer zu gehen.
    Dann erschien Nicolai eines Tages in
unserem Schlafsaal, als sich die Jungen auf das Zubettgehen vorbereiteten. Er
sah sehr verärgert aus. »Moses, komm mit«, sagte er mit ernster und barscher
Stimme. »Befehl des Abtes. Du sollst alles mitnehmen, was du besitzt.« Mehrere
Sekunden lang war ich unfähig, mich zu bewegen, aber dann zwinkerte er mir zu
und lächelte. »Du sollst wirklich all deine Sachen mitnehmen«, sagte er. »Ich
habe eine Überraschung für dich.« Ich sammelte meine Kleider zum Wechseln
zusammen – all meine sonstigen Besitztümer waren längst der Zerstörungswut der
anderen Jungen zum Opfer gefallen.
    »Viel Spaß«, flüsterte Thomas
anzüglich, als ich ging, und zum Abschluss hörte ich ein allgemeines Kichern.
Ich folgte Nicolai die Treppe hinauf, aber wir passierten sein Stockwerk und
stiegen weiter hinauf zum Dachboden. Er öffnete die Tür zu einem winzigen
Zimmer, in dem unter einem quadratischen Fenster ein Bett stand und an der Wand
ein Spiegel hing, sonst nichts.
    »Ulrich sagt, ein Künstler braucht
seine Ruhe«, erklärte Nicolai, »und hat auch den Abt davon überzeugt. Das ist
dein Zimmer! Niemand darf ohne deine Erlaubnis hier herein – nicht einmal ich.«
Dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn und ging. Er schloss die Tür hinter
sich.
    Ich stand einfach da, das Bündel
Kleider in meinen Armen. Ich starrte auf die geschlossene Tür und lauschte auf
die Stille. Allein, dachte ich, ich muss allein leben? Bedeutet es
das, ein Künstler zu sein?
    Ich ließ meine Kleider auf den Boden
fallen und das Geräusch , das sie dabei machten, schien wie ein Donnerschlag. Ich kletterte auf das
Bett und presste meine Nase ans Fenster. Die neue Kirche schimmerte im unsteten
Mondschein. Ihr Anblick brachte mir Klarheit. Sie war vollkommen, und auch ich
konnte es sein. Ich stellte mir vor, wie meine Stimme in ihrer Kuppel klang.
Ich sah Nicolai und Remus lächeln. Ich sah sogar die anderen Jungen, wie sie
mich bewundernd anstarrten. Und dann legte ich mich in mein Bett . Zum ersten Mal in
meinem Leben war mein Atem der einzige, den ich hörte, als ich einschlief.

XVI.
    Noch heute ist sie eine böse
und bedrohliche Vorstellung in meinem Kopf, obwohl ich sie seit einem halben
Jahrhundert nicht mehr gesehen habe. Wenn ein Erdbeben Staudachs Kirche am Tag
vor der Einweihung dem Erdboden gleichgemacht hätte, wäre alles ganz anders
gekommen. Aber ich darf dich nicht in die Irre führen. Sie ist die
Vollkommenheit in Gestalt von Stein. Symmetrie beherrscht ihre Architektur.
Rein und weiß überragen ihre Doppeltürme die Dächer der Stadt. Eine hohe
Rotunde befindet sich genau in der Mitte, und darunter spaltet ein goldenes
Gitter die Kirche in zwei exakte Hälften, genauso wie die Welt geteilt ist: Am
Hochaltar die Hirten, auf der anderen Seite die Herde. Das Glas der großen
Fenster ist zartgrün gefärbt, sodass die strahlende Sonne durch sie
hindurchscheint wie durch einen Gebirgsbach. Achtzehn weiße Säulen stützen den
Himmel.
    Am Vorabend der Einweihung wurden die
Gerüste entfernt, die roten Samtvorhänge vor die Beichtstühle gehängt und der
Steinboden poliert, bis er glänzte. Staudach schloss die Tür zwischen der
Sakristei und den Quartieren der Mönche auf, und die Mönche und Novizen und
Chorknaben strömten wie eine schwarze Flut herein. Da begann ich zu verstehen,
dass der Klang für die Architektur eine ebenso große Rolle spielt wie die Form.
Als die Mönche ihre verwunderten und erstaunten Ausrufe an die Seligen
richteten, mit denen das Deckengewölbe bemalt ist, gaben diese das Erstaunen an
uns zurück. Der Widerhall unserer Füße auf dem Steinboden weihte jeden Schritt.
Das Chorgestühl aus Eiche knarrte nicht einmal unter Nicolais schwerem Gewicht.
Als wir in das Kirchenschiff für die Besucher zeigten und unsere Fingerknöchel
das Gitter streiften, ließ uns das Summen des Metalls spüren, wie solide diese
Barriere war, die uns von den Laien trennte. Und als Nicolai seine Stimme zum
ersten Mal in den unverdorbenen Himmel strömen ließ, hörten wir ihr Grollen in
fernen Ecken und spürten, dass Gott, Seine Kirche und Seine Musik wahrhaft
größer waren, als wir ahnen konnten.
    Ich erwachte erwartungsvoll, denn
es musste sich

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