Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
etwas verändern, wenn meine Stimme die schönste Musik sang, die
es gab. Und das Beste war, dass Amalia zuhören würde, meine einzige
gleichaltrige Freundin. Als ich fast fertig mit dem Anziehen war und die neuen
Glocken der Abtei den Beginn der Messe verkündeten, dachte ich an den einzigen
Menschen, der nicht da sein würde, um meine Vollendung zu hören. Ich senkte den
Kopf und die Tränen um meine Mutter tropften auf den Boden.
Ich hörte der Messe von meinem Fenster
aus zu – Ulrich hatte mir befohlen, in meinem Zimmer zu bleiben und meine
Stimme zu schonen. Während sich jede katholische Seele im Umkreis mehrerer
Meilen der Prozession anschloss, wanderte ich durch die Korridore der Abtei und
spähte verstohlen in die Zellen der Mönche. Ich stahl mir etwas zu essen aus
der leeren Küche. Am Abend schließlich, nachdem ich gehört hatte, wie die
Mengen zurückkehrten, wohlig angefüllt mit Speis und Trank, saß ich auf meinem
Bett und starrte auf die Tür. Dann hörte ich Nicolais Poltern, als er die
Treppe heraufgerannt kam. Er stürzte in den Raum. »Es ist so weit!«, rief er.
Er leckte sich die Finger und glättete mein Haar, kniff mir in beide Wangen,
hob mich hoch und drehte mich im Kreis herum, um mein Aussehen zu
kontrollieren. Dann trug er mich durch die Tür. Am Kopf der Treppe blieb er
stehen und sah mir in die Augen. »Moses«, sagte er mit Freudentränen in den
Augen, »ich danke Gott jeden Tag, dass er mich erwählt hat, um dich aus dem Fluss
zu ziehen.« Und dann trug er mich zur Kirche.
Dieses Mal jedoch fand ich den
vollkommenen Raum weitaus weniger friedlich als am Abend zuvor. Er wimmelte von
neuen Gesichtern und war angefüllt mit aufgeregtem Stimmengewirr. Ich wäre
zertreten worden, hätte ich nicht Nicolai als Beschützer gehabt. Ich legte
meine Arme um seinen Hals, als er mich aus der Sakristei in die Masse von
mönchischem Schwarz trug. Fast jedes Gesicht, an dem wir vorbeikamen, war mir
unbekannt, denn ich hatte immer nur auf Knie geblickt, und jetzt, als ich von
Nicolais Höhe aus auf sie sah, wusste ich nicht, welcher Mönch zur Abtei
gehörte und welcher viele Meilen gereist war, um an der Einweihung
teilzunehmen. Beim Anblick der schwabbeligen Gesichter von achtzehn Äbten –
einer Reihe von Mitren im Chorgestühl – lief es mir kalt über den Rücken. Es
müssen im Ganzen fünfhundert Mönche gewesen sein, und zwischen ihnen entdeckte
ich auch die Gewänder von vielen Priestern. Einen Augenblick lang meinte ich
das warnende Läuten der Glocken meiner Mutter zu hören und hielt furchtsam nach
dem Gesicht meines Vaters Ausschau. Er war nicht da.
Auf unserer Seite des Gitters befanden
sich auch mehrere Gäste, die keine geistliche Kleidung trugen. Zu ihnen gehörte
Ulrichs Gesandter aus Stuttgart, Doktor Rapucci. Am Tag zuvor hatte mein
Maestro mich veranlasst, ein privates Konzert für den Mann zu geben. Der
Chormeister hatte mich durch die Tür geleitet, und die Hand, an der er mich
hielt, hatte gezittert. Als der blasse Doktor näher kam und verkniffen
lächelte, sträubten sich meine Nackenhaare und ich spürte, wie Ulrich mich ein
wenig zurückzog, als wollte er nicht, dass der Mann mich berührte. »Du musst
für ihn singen«, hatte Ulrich nervös gesagt, »aber nur kurz. Leise. Streng
deine Stimme nicht an.« Ulrich starrte auf die Tasten, als er mich begleitete,
und sobald ich geendet hatte, ergriff er meine Hand und führte mich eiligst
hinaus, als wollte er nicht, dass ich noch eine einzige weitere Minute mit dem
Mann verbrachte. Jetzt, in der Kirche, schenkte Rapucci mir ein wissendes
Lächeln, als hätten er und ich ein Geheimnis. Und dann verschwand er in der
Menge.
Als Nicolai mich weit genug in den
Chorraum getragen hatte, sah ich, dass dieses schwarz brodelnde heilige Meer
nur die Hälfte der Menschenmenge darstellte. Jenseits des Gitters war die
andere Hälfte des Kirchenschiffs so überschwemmt von der knalligen Ware der
Sankt Gallener Textilhändler, dass mir allein vom Anblick schwindlig wurde. In
Rosa, Grün und Violett wirkten die besten Sankt Gallener Seelen allesamt wie
von kleinen Mädchen herausgeputzte Stoffpuppen, die lautstark schnatterten.
Alle Hälse bogen sich zurück und alle Finger zeigten auf die leuchtenden
Malereien an der Decke.
Ich drehte mich um und sah in Ulrichs
fahles Gesicht, das auf mich ausnahmsweise einmal vertraut und tröstlich wirkte.
Der dreifache Chor, zusammengeschustert aus jeder passablen Stimme im Umkreis
von hundert
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