Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
im Sprechen bestand,
sondern im Zuhören. Ich lächelte über die Geschichten, die sie erfand, und
lachte, wenn sie ihre Tante nachmachte. Die ganze Zeit über hielt sie meine
Hand, und oft drängte sie mich an die Wand, sodass ich ganz nah an ihrer Seite
gehen musste. Bald wurde durch die Wärme unserer Hände, durch das
Aneinanderreiben unserer Schultern und auch durch eine gelegentliche Umarmung
unser kindliches Bedürfnis nach Berührungen befriedigt, die uns beiden fehlten
– mir als Waise, ihr als Tochter einer kranken Mutter und eines Vaters, der
niemanden umarmen konnte, ohne seine Liebe in Maßen und Gewichten zu
analysieren.
Wenn wir schließlich an die Tür ihrer
Mutter gelangten, reichte Peter Amalia immer zwei Holzkohlemasken, ein frisches
Blatt Papier, eine Feder und Tinte und bat uns, die wertvollen Aufzeichnungen
des Tages durchzulesen. Seine Einstellung mir gegenüber hatte sich völlig
gewandelt, seit ich mit der Wissenschaft zu arbeiten begonnen hatte statt gegen
sie. »Hast du dich etwa im Regen erkältet?«, fragte er und untersuchte meine
Wangen, als wolle er eine Schwellung entdecken. »Du hast doch keine Kartoffeln
gegessen?« Über die exotische Knolle sagte er: »Davon bekommt man Lepra, wie du
hoffentlich weißt.« Er bestand darauf, dass ich mich auf eine Waage stellte,
und verzeichnete mein Gewicht in seinen Notizen. Zum Schluss spähte er immer in
meinen Hals, bevor er uns mit einem abschließenden Nicken erlaubte, durch die
Tür zu treten.
Im Inneren, wo die Deckenlampe
leuchtete und verschiedene Kerzen im Raum verteilt waren, konnte ich sehen,
dass Frau Dufts Gesicht einmal so schön wie das meiner Mutter gewesen war,
bevor sich die Haut über den Knochen gespannt hatte und die Augen eingesunken
waren. Ihr Lächeln war aber immer noch warm und ihre Stimme beruhigte mich
trotz ihrer schweren Hustenanfälle so vollständig, dass ihr Zimmer nach dem
Glockenturm und Nicolais Zelle der dritte Ort auf Erden wurde, an dem ich mich
völlig sicher fühlte.
Amalia legte Papier und Feder auf
einen Tisch (sie erfand die Daten später) und setzte sich neben Frau Duft,
lehnte sich manchmal sogar über das Bett und legte ihren Kopf in den Schoß ihrer
Mutter, sodass diese ihr übers Haar streicheln konnte. Wenigstens für einen
Augenblick entsprachen sie meiner idealen Vorstellung von Mutter und Kind und
waren nicht mehr zwei einsame Menschen, deren Leben von der Krankheit zerstört
und von der Wissenschaft getrennt wurden.
In diesem Schlafzimmer gab ich einige
der schlechtesten Vorstellungen meines Lebens und einige der besten. Denn die
Musik, die wir in unseren Kirchen singen, ist zwar oft schön, aber nicht für
einen zehnjährigen Sopran geschrieben, der allein in einem Schlafzimmer singt.
Da Ulrich kein Interesse daran hatte, mir bei der Vorbereitung dieser privaten
Konzerte zu helfen, die er niemals selbst zu hören bekam, blieb mir beim
Zusammenstückeln meiner Lieder nur die naive Kunstfertigkeit, mit der meine
Mutter ihre Hämmer geschwungen hatte. Ich stockte oft, verstand nur instinktiv,
wie ich einen Wechsel der Tonart oder den Übergang von einem ruhigen
gregorianischen Gesang zu einem figurierten Vivaldi meistern sollte. Welchen
Frevel ich in diesem Schlafzimmer beging! Ich riss Litaneien auseinander und
baute sie wieder zusammen, schnitt Psalmen in zwei Teile, vermischte Latein und
Deutsch, verstümmelte beide Sprachen, und all das außerhalb von Kirche oder
Kapelle, all das in einem kleinen, trübe beleuchteten Schlafzimmer.
In späteren Jahren wurde mir klar,
dass ich in Frau Dufts Zimmer die wichtigen Werkzeuge erworben hatte, die in
meiner Ausbildung in Sankt Gallen fehlten. Denn im sonnigen Neapel, wo Jungen
wie ich in den großen conservatori ausgebildet wurden, wo sie Arien erlernten, die in San
Carlo oder im Teatro Ducale gesungen werden sollten, lehrte man nicht nur die
Perfektion des Atmens, der Haltung und der Stimme – Ulrich war in dieser
Hinsicht der größte Maestro von allen –, sondern auch die Kreativität des
Virtuosen. Zwanzig Jahre später würde ich im rüpelhaften San Carlo eine Arie
mit einem aus sechs Sätzen bestehenden Text auf fünfundzwanzig Minuten
ausdehnen; nach zehn Minuten Applaus machte ich es ohne eine einzige
Wiederholung noch einmal. In Frau Dufts Schlafzimmer jedoch begann ich zu
spüren, wie Lieder geschrieben wurden, dass sie umgeschrieben und verbessert,
heller gemacht, dunkler gemacht, in die Länge gezogen, komprimiert oder
verkehrt
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