Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Schreibtisch
saß, denn mein Besuch fiel ausnahmslos mit ihrem Philosophieunterricht
zusammen, dem einen Fach, das ihr Vater nicht der vollbusigen französischen
Gouvernante Marie anvertraute. Welche Erleichterung breitete sich auf dem
Gesicht meiner kleinen Freundin aus, wenn ich eintrat! Innerhalb von Sekunden
war die Philosophie vergessen, und ihre Wangen brannten. Sie ließ ihre Aufgaben
liegen, stand auf und begrüßte Remus, der ihr seine Bücher entgegenhielt wie
einen Schild. Er nahm so weit entfernt von Karoline wie möglich Platz. Dann
nickte Amalia mir stets zu wie eine richtige und würdige Gastgeberin und
geleitete mich durch einen Gang. Sobald wir außerhalb der Hörweite ihres Vaters
und Karolines waren, nahm sie meine Hand und verlangsamte ihre Schritte, um den
Weg in das Zimmer ihrer Mutter in die Länge zu ziehen, denn dies war die
einzige Zeit der ganzen Woche, zu der beide von uns mit einem gleichaltrigen
Menschen allein waren, den wir als Freund bezeichnen konnten. Sie redete viel
mehr als ich, ahmte zum Beispiel Karolines strenge Ermahnungen nach: »Das tun
wir hier nicht, Amalia Duft, nicht in diesem Haus «, oder erzählte mir, wie sie fliehen würde – auf ein
Piratenschiff oder zu einem Eskimostamm, wie sie sich als Junge verkleiden und
an einem collège in Paris Philosophie studieren würde. Manchmal blieb sie auf dem Korridor
stehen, denn selbst unsere schleppenden Schritte waren für ihren Ideenreichtum
zu schnell. In einer Woche zeigte sie mir einen Schädel, von dem sie sagte, er
sei menschlich (aber für mich sah er eher wie ein Schweineschädel von der Art
aus, wie sie ihr Vater konservierte). In der nächsten Woche hatte sie ein Bild
dabei, das sie von einem afrikanischen König gezeichnet hatte. Bei einem
anderen Besuch übersetzte sie eine blutige Szene aus einem griechischen Epos,
das sie auf Geheiß ihres Vaters auf Französisch gelesen hatte.
Allmählich begann ich zu verstehen,
dass der Sturz, bei dem ihr Bein verletzt worden war, auch ihre Freiheit
beschnitten hatte. Nachdem ich gesungen hatte, schlug Amalia an einem besonders
warmen Abend ihrem Vater zum Beispiel schüchtern vor, dass sie gerne sehen
würde, welche Fortschritte die Kirche machte – sie würde mit Remus und mir zur
Abtei laufen und vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. »Ich kenne den Weg«,
sagte sie.
Ihr Vater war in seine Arbeit vertieft
und hatte lediglich gemurmelt: »Gut, Liebes, das ist gut.«
Aber Karoline durchkreuzte ihren Plan.
Sie spürte uns an der Tür auf. »Amalia!«, rief sie. »Was fällt dir ein?«
Amalia erklärte ihr, dass sie gerne
die Kirche besichtigen wollte.
»Am Sonntag«, sagte Karoline, nahm
Amalias Hand und führte sie ins Haus zurück. »Am Sonntag darfst du mit mir
gehen.«
»Aber ich will nicht mit dir gehen!«,
schnappte Amalia. Sie riss ihre Hand los.
»Amalia«, ermahnte Karoline sie flüsternd,
»hast du vergessen, was passiert ist, als du das letzte Mal allein ausgegangen
bist?« Sie blickte auf Amalias Knie, als würde die Verletzung durch den Stoff
ihres Kleides leuchten. »Hättest du gern eine weitere Narbe?«
Die Demütigung ärgerte Amalia und sie
wurde rot.
Karoline führte ihre Nichte fort.
»Morgen«, sagte sie, als sie in einem Raum verschwanden, »kann Marie mit dir in
der Kutsche ausfahren. Du willst doch nicht, dass alle auf dein Hinken starren,
nicht wahr, Liebes?«
Bei unserer zweiten Begegnung
führte mich Amalia stumm und mit verärgertem Gesicht durch die Korridore. Sie
knurrte leicht, wenn sie ausatmete. Ich folgte ihr nervös, während sie
voranhinkte – bis sie auf einem stillen Flur plötzlich stehen blieb. »Ich gehe
nicht weiter«, schnappte sie, »bis du nicht wenigstens sechs Worte zu mir
gesagt hast.«
Ich muss verwirrt ausgesehen haben.
Sie stieß mir ihren Zeigefinger in die Brust und sprach so langsam, als wäre
ich ein kleines Kind. »Das wäre ein Wort mehr, als du zu meiner Mutter gesagt
hast.«
Da versuchte ich zu sprechen, wirklich
– denn ich hörte in ihrer Bitte dieselbe Einsamkeit, die auch mein Leben
beherrschte –, aber ich konnte es nicht. Ich war mit Stummheit geschlagen. Ich
starrte mit leerem Blick auf die Wand hinter ihr, als stünde dort das
Geheimnis, wie man Freunde findet, allerdings in einer unbekannten Sprache. Sie
wartete kaum dreißig Sekunden, bevor sie murmelte: »Jungs sind so dumm«, und
mich weiterzog.
Nach dem dritten oder vierten Besuch
hatte ich gelernt, dass das Geheimnis nicht unbedingt
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